Hermann Lichtenstein – Judenverfolgung

Hermann Lichtenstein, ca. Mitte der 1930er Jahre (Bildquelle: Lindemann, Werner: Die Entwicklung der Gemeinde Quickborn und ihre Lehren für die Landesplanung im Niederelbegebiet. Hamburg 1935.)
Kandidatenliste Gemeindevertreterwahl 1933 (Pinneberger Tageblatt, 08.03.1933)
Der Vorlauf der Reichsprogromnacht (Norddeutsche Nachrichten, 08.11.1938)
Postkarte aus dem KZ Sachsenhausen von Hermann Lichtenstein an seine Frau
Ausweis der Jüdischen Gemeinde Hamburg
10. November 1938
Hermann-Löns-Straße, Quickborn

Hermann Lichtenstein wurde 1881 in Berlin geboren und heiratete dort 1907 Clara Schieche, die nach der Eheschließung zum Judentum konvertierte. 1896 begann er eine Lehre und schloss sich mit 18 Jahren der Sozialdemokratischen Partei an. 1911 verzog das Ehepaar nach England. Hier geriet Hermann Lichtenstein mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft und kehrte 1919 wieder nach Deutschland zurück. Das Ehepaar Lichtenstein lebte zuerst wieder in Berlin und anschließend in Hamburg, wo Hermann Lichtenstein Sektionsleiter des Deutschen Kürschnerverbandes war. Im Jahr 1927 zog das Paar nach Quickborn-Heide. Erwerbstätig blieb Hermann Lichtenstein weiterhin in Hamburg, zuletzt als Werkmeister bei der Firma M. Wolfes.[1] In Quickborn engagierte sich Lichtenstein in der SPD. Noch auf der letzten, nur noch eingeschränkt demokratischen Gemeindevertreterwahl im März 1933 kandidierte er für seine Partei auf dem Listenplatz elf.[2]

Wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Firma, in der er arbeitete, aufgelöst und Hermann Lichtenstein arbeitslos. Trotz vielfältiger Versuche gelang es ihm als Juden nicht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Erst Ende 1939 fand er bei der Firma Heinrich Lenschow & Co. ein neues Beschäftigungsverhältnis in Quickborn. Hier war auch der Jude Julius Thalberg aus Hamburg-Bahrenfeld beschäftigt, der mit dem Firmenbesitzer gut befreundet war. Thalberg wurde auf Veranlassung des NSDAP-Ortsgruppenleiters und des Amtsvorstehers im Oktober 1941 an einen anderen Arbeitsplatz innerhalb Hamburgs vermittelt. Als Begründung gab der Amtsvorsteher in einem Schreiben an das Arbeitsamt Hamburg an, dass das Verhältnis des Julius Thalberg „zu dem Inhaber Lenschow recht undurchsichtig ist.[3]

Die mit der NS-Herrschaft sich steigernde Judendiskriminierung betraf von dem Ehepaar nur Hermann Lichtenstein. Zwar war auch seine Frau zum jüdischen Glauben übergetreten, da sie jedoch „arischer“ Abstammung war, wurde sie keinen direkten antisemitischen Maßnahmen ausgesetzt.[4]

1938 wurde Hermann Lichtenstein im Rahmen der Reichspogromnacht verhaftet. Vorausgegangen waren Schüsse des polnischen Juden Henschel Grynspan auf den Gesandtschaftsrat der deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938. Als dieser am 9. November an den Folgen seiner Verletzungen starb, diente sein Tod als Vorwand zur Inszenierung der Reichspogromnacht. Neben der Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen nahmen die Staatsorgane als „Vergeltungsmaßnahme“ im Deutschen Reich 25.000 bis 30.000 männliche Juden fest, wovon ein Teil in den Konzentrationslagern inhaftiert wurde.[5] Der damalige Quickborner Amtsvorsteher der Ortspolizeibehörde Wilhelm Kolz erinnerte sich in der Nachkriegszeit hieran: „Im Jahre 1938 erhielt ich als damaliger Amtsvorsteher des Amtsbezirks Quickborn (Holst.) von meiner vorgesetzten Dienststelle die Anweisung, die in meinem Bezirk ansässigen Juden in Schutzhaft nehmen und zwecks Weiterbeförderung nach Hamburg-Altona verbringen zu lassen.[6] In „Schutzhaft“ nahm Kolz am 10. November 1938 Hermann Lichtenstein aus Quickborn-Heide und Dr. Edward August Ross aus Hasloh. Sie gehörten zu den über 120 Juden, die aus Schleswig-Holstein in das KZ Sachsenhausen verschleppt wurden.[7] Zehn Tage nach seiner Verhaftung schrieb Hermann Lichtenstein aus dem KZ resigniert nach Hause: „Meine liebe Clara! Ich bin gesund und hoffe, daß es dir besser geht als in der letzten Zeit. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du alles verkaufst, ich gebe dir die Vollmacht dazu. Dann wirst du ja wohl am besten wissen, wohin du gehst. Du mußt aber dann gleich die neue Adresse aufgeben. Schreibe mir recht bald ausführlich über alles, ich kann ja leider nicht, da die Karte gleich zu Ende ist. Sei herzlich gegrüßt und geküßt dein Hans.[8] In seiner zweiten Postkarte teilte er seiner Frau mit: „Meine liebe Clara! Bis heute habe ich noch keine Nachricht von Dir erhalten. Wie steht es mit d. Gesundheit? Mir geht es gut. (…) Ich übergebe Dir das Eigentumsrecht an allem. Schicke keine Sachen, Pakete erhalten wir auch zu Weihnachten nicht. Bitte schreibe bald, ich kann nicht mehr schlafen; nimm keinen gefütterten Umschlag. Sei sehr gegrüßt und geküßt von Deinem Hans.[9]

Hermann Lichtenstein hatte sehr unter den KZ-Grausamkeiten zu leiden gehabt und wurde nach drei Monaten Ende Februar 1939, stark durch die Haftbedingungen gezeichnet, mit erfrorenen Beinen und einem bleibenden Blasenleiden aus den KZ Sachsenhausen entlassen. Ein Mithäftling erinnerte sich an die Entlassung: „Ich weiß, daß Herr L. während des Antretens vor der Baracke B im Lager zur Entlassung in der letzten Stunde derart mißhandelt wurde, daß er in kurzer Zeit drei Mal in Ohnmacht fiel und mit Gewalt durch die SS von dieser Ohnmacht befreit wurde, um erneut mißhandelt zu werden.[10]

Ab dem 1. September 1941 hatte Hermann Lichtenstein einen gelben Judenstern zu tragen und durfte laut einer Verfügung vom 24. September 1941 die Wohngemeinde ohne schriftliche Einwilligung durch den Amtsvorsteher nicht mehr verlassen.[11] Um mit seinem Judenstern nicht zu sehr aufzufallen, hatte er das grelle Gelb des Sternes, so erinnerte sich ein Zeitzeuge, vermutlich mit Schuhcreme etwas abgedunkelt.[12] Ein anderer Zeitzeuge erinnerte sich, dass er während des Krieges keine Lebensmittelkarten erhielt und sich die Lichtensteins daher zur Selbstversorgung Schafe und Gänse hielten. In der Siedlung war er als Mützenmacher bekannt, der den Kindern zur Winterzeit Kopfbedeckungen nähte.[13]

Als am 14. Oktober 1941 im Deutschen Reich die Judendeportationen in die osteuropäischen Gettos und Konzentrationslager begannen[14] und ab dem 5. Dezember 1941 auch in Schleswig-Holstein die ersten Juden deportiert wurden,[15] blieb Hermann Lichtenstein aufgrund seiner „Mischehe“ [16] von Verfolgungsmaßnahmen verschont. Mit dem vorrückenden Krieg sollten schließlich auch Juden aus diesen Ehen dem „geschlossenem Arbeitseinsatz“ zugeführt werden. Am 1. Februar 1945 ging beim Quickborner Amtsvorsteher ein Brief des Landrats ein, der eine Durchschrift eines Schreibens des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, enthielt: „Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD. hat auf Befehl des Reichsführers SS … angeordnet, daß nunmehr auch alle in Mischehen lebenden arbeitsfähigen Juden und Jüdinnen – auch Geltungsjuden[17] – unbeachtet des z.Zt. bestehenden Arbeitsverhältnisses dem Arbeitsghetto Theresienstadt zum geschlossenen Arbeitseinsatz zu überstellen. Von der Überstellung sind ausgenommen: a) alle nicht mehr arbeitsfähigen jüdischen Mischehepartner, b) Mischehepartner, deren Söhne gefallen und in Fällen, in denen mit Rücksicht auf vorhandene Kinder zu erwarten ist, daß eine gewisse Unruhe hervorgerufen werden würde, c) Juden und Jüdinnen, deren nichtjüdische Ehepartner sich im öffentlichen Dienst befinden.[18] Auf Anweisung des Amtsvorstehers hatte sich Hermann Lichtenstein am 2. Februar 1945 beim Gesundheitsamt im Kreishaus Pinneberg auf seine Arbeitsfähigkeit untersuchen zu lassen. Da er jedoch aufgrund einer Herzerkrankung bettlägerig war, was ihm auch sein Hausarzt attestierte, war Hermann Lichtenstein nicht unter den Juden aus „Mischehen“, die am 14. Februar vofn Hamburg nach Theresienstadt deportiert wurde. Er überlebte die letzten Wochen der NS-Herrschaft in Quickborn.[19]

Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus engagierte sich Hermann Lichtenstein wieder politisch. Am 11. Mai 1945 besetzte er mit anderen NS-Opfern und Nazi-Gegnern das Quickborner Gemeindebüro und forderte die Absetzung der immer noch amtierenden Nationalsozialisten. Als ehemals rassisch Verfolgter war er anfangs im Gespräch, das Bürgermeisteramt zu übernehmen, das dann jedoch an den von den bürgerlichen Kräften favorisierten Erwin Salomon ging, der ebenfalls rassische Diskriminierungen erlebt hatte.[20]

Von 1946 bis 1948 war Hermann Lichtenstein für die SPD im Gemeinderat tätig. Er starb 1950 mit 68 Jahren.[21]

Veröffentlicht von Jörg Penning am

Ein Hinweis zu “Hermann Lichtenstein – Judenverfolgung”

  1. Jörg Penning sagt:

    Sehr geehrter Herr Strnad,
    haben Sie herzlichen Dank für Ihren Hinweis. Ich habe den Text dahingehend geändert.
    Freundliche Grüße
    Jörg Penning

  2. Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für die interessanten Artikel. Nur ein kleiner Hinweis zum Artikel Hermann Lichtenstein. Die Mischehe kann nicht privilegiert gewesen sein, da seine Frau ja zum Judentum konvertiert war und er laut Artikel auch den Stern tragen musste. Außerdem sollten Sie bei dem Artikel das Schlagwort Mischehe hinzufügen.
    Beste Grüße Maximilian Strnad

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