Von der Judenverfolgung des Dritten Reiches betroffen war auch die Familie Lötje. Diese bestand aus der sogenannten „Volljüdin“ Anna Lötje geborene Lippstadt, ihrem „arischen“ Ehemann Oskar sowie den drei von den Nazis als „Mischlingen I. Grades“ stigmatisierten Kindern.[1]. Oskar Lötje, geb. 1904, stammte ursprünglich aus Eutin und war von Beruf Bäcker und Konditormeister. Erwerbstätig war er zunächst in einer großen Bäckerei in Elmshorn, wo er im Turnverein die Schneiderin Anna Lippstadt kennenlernte, die 1908 in Elmshorn geboren wurde. 1931 heiratete das Paar in Elmshorn und Anna Lötje konvertierte zur evangelischen Kirche. [2]
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte Oskar Lötje nicht mehr seinen Beruf ausüben. Auch seine anschließende Tätigkeit als Brot- und Lebensmittelvertreter in der Siedlung Langenmoor musste er 1934 aufgeben, da, wie er später angab, aufgrund seiner „Judenehe“ der Kundenkreis immer kleiner wurde. Danach vollrichtete er als Erwerbsloser Notstandsarbeiten im Straßenbau. Den Aufforderungen, sich von seiner jüdischen Ehefrau scheiden zu lassen, kam er nicht nach. [3]
Nach dem natürlichen Tod des Vaters von Anna Lötje Anfang der 1940er Jahre nahm die Familie in Langenmoor die Witwe Henriette Lippstadt auf und erhielt daraufhin eine Räumungsklage. Die Mutter lebte anschließend in einem als „Judenhaus“ titulierten Wohnstift für ältere jüdischen Bewohnern in der Friggestraße in Hamburg und wurde hier am 15. Juli 1942 ins Getto nach Theresienstadt verschleppt, wo sie am 15.11.1943 umkam. Ein Sohn erinnerte sich noch sehr lebhaft an den Abtransport: „Das war im Juli zwischen meines Bruders und meinem Geburtstag, genau in der Mitte. Und da sind wir dann hin. Der Vater war vorher schon hin und hat für die Oma ein Bündel zusammengebunden mit Kopfkissen und sowas alles. Und hat das in eine Wolldecke so eingenäht oder so in einem Leinentuch. Ich weiß nur, dass er so eine runde Sacknadel hatte und damit hat er das alles vernäht gehabt. Und jetzt hatten die sich draußen alle versammelt vor dem Stift da. Und da standen dann LKWs und die alten Damen mussten da aufsteigen und das Gepäck wurde durchsucht. Und da hat einer mit so einem Messer oder Bajonette in diesen Beutel reingestochen. Da hat mein Vater sich fürchterlich aufgeregt, was sie den alten Leuten da eigentlich antun, ob sie keinen Anstand haben usw. Und dann haben sie zu ihm gesagt, er soll man ganz ruhig sein und sich da nicht einmischen. Und was er überhaupt wollte. Na, und er sagt dann, das ist die Schwiegermutter und er wollte ihr helfen beim Einsteigen und so. Na, und da hat er irgendwas Freches losgelassen – ich weiß nicht mehr was. Ich weiß nur, dass er am ganzen Körper gezittert hat. Wir haben rechts und links von ihm gestanden und haben seine Hände gehalten. Und ich nehme an, dass das vielleicht auch eine Idee von der Mutter war, dass sie uns mitgeschickt hat, damit wir auf ihn aufpassen. Denn vielleicht hätte er dann mehr gesagt und wäre abtransportiert worden. Denn der Offizier oder wer das war, der hat in einem ganz scharfen Ton gesagt, er solle sich zusammenreißen, sonst geht es in die grüne Minna und er weiß dann ja, wo es hingeht. Ja, dann war er auch ruhig. Wie gesagt, er hat gebebt vor Wut. Na ja, und dann hat er der Oma noch geholfen einzusteigen und so und dann sind wir mit der Bahn zurück.“ [4] Auch die Schwester von Anna Lötje, Ilse Lippstadt, starb in der NS-Zeit. Sie wurde nach Minsk deportiert und dort, als sie aus einer Kolonne heraus einige ihr persönlich bekannten Soldaten aus Elmshorn grüßte, beiseite geführt und erschossen.[5]
Die Familie Lötje zog schließlich von Elmshorn nach Stollberg in den Südharz, wo Oskar Lötje eine Bäckerei pachten konnte. Zu einer Eröffnung war es dann nicht mehr gekommen, da die Familie die Anordnung erhielt, dass Anna Lötje als Jüdin nicht im Laden verkaufen durfte. Anschließens war Oskar Lötje in einer Keksfabrik tätig, bis die Familie die behördliche Mitteilung erhielt, aus der Gemeinde fortzuziehen und den Gau Halle-Merseburg binnen 48 Stunden zu verlassen.[6] Über einen kurzen Aufenthalt in Elmshorn gelangte die Familie Lötje schließlich nach Quickborn. Hier wurde Oskar Lötje in der Bäckerei des im Krieg gefallenen Inhabers Eggert in der Adolf-Hitler-Straße (heute: Harksheider Weg) zur Arbeit verpflichtet und so zog die Familie am 25. November 1943 in ein Nachbargebäude der Bäckerei.[7]
Über ihr Leben in Quickborn führte ein Sohn in einem Zeitzeugengespräch aus: „Während der Nazizeit haben wir uns immer sehr bedeckt gehalten, sehr ruhig, sehr vorsichtig. Nicht auffallen, um keinen Preis auffallen, das wurde uns immer eingebläut von den Eltern: ‚Bleibt ruhig und hört nichts und seht nichts und geht euren Weg und kümmert euch um nichts.‘ (…) Beim Prophetensee sind wir oftmals gewesen. Da war das insofern gut, weil wir da ziemlich alleine waren, da sind selten welche hingegangen. Da haben wir uns gerne aufgehalten, weil wir da alleine waren.“ [8] Meistens fanden die Außenaufenthalte nach Sonnenuntergang statt: „Ich bin oft mit ihr [der Mutter Anna Lötje] alleine abends spazieren gegangen. Sie ist ja nur abends im Dunkeln spazieren gegangen aus Angst vor Angriffen und sie wollte einfach nicht gesehen werden.“ [9] Der andere Sohn erinnerte sich: „An den Läden in Quickborn waren ja überall an der Scheibe, wo es in den Laden reinging, in den jeweiligen, ob Schlachter oder Milchmann, stand da ‚Für Juden keinen Zugang‘. (…) Sie [Anna Lötje] durfte in den Läden nichts kaufen, da wurde ich dann als Junge hingeschickt, weil ich nicht jüdisch aussah. Ich war der Einkäufer bei uns.“ [10] Eine „großzügige“ Bestimmung der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden ermöglichte es, dass Anna Lötje – als Jüdin mit ihrem Ehemann in einer „privilegierten Mischehe“ lebend – von dem Tragen des Judensterns befreit blieb.[11]
Nachdem am 19. Januar 1945 der Reichsführer SS die Aufforderung erteilte, nun auch die in „Mischehen“ lebenden Juden nach Theresienstadt zum „Arbeitseinsatz“ zu deportieren, erging neben Hermann Lichtenstein und Kurt Jacobsohn auch an Anna Lötje die Aufforderung, sich am 2. Februar 1945 beim Gesundheitsamt in Pinneberg vor dem Transport auf die Arbeitsfähigkeit hin untersuchen zu lassen.[12] Da sie jedoch schwanger war und auf einen ihr wohlgesinnten Arzt traf, wurde sie als arbeitsunfähig eingestuft und von einer Deportation abgesehen. Der Sohn hierzu: „Sie musste nach Pinneberg zu einem Amtsarzt. (…) Nach der Aussage des Arztes hätte unser Bruder im Juni oder im Mai [1945] geboren werden sollen. Er ist aber erst im August geboren. Da hat sie [Anna Lötje] erzählt, dass der Arzt wohl auch gesehen hat, dass das alles zu Ende geht mit dem Hitler-System. Und da hat er gesagt: ‚Nee, die ist nicht transportfähig.‘“ [13]
An ihrer Stelle wurde hingegen ihr Ehemann zum „Arbeitseinsatz“ abtransportiert. Der Sohn in einem Gespräch: „Er wusste, er kriegt eh bescheid, dass er wegkam; und ich werde den letzten Abend nicht vergessen, bevor er gefahren ist. Da sind wir alle zusammengesessen und haben extra noch tolles Essen gemacht. Wo es doch sonst immer nur schlechtes und einfaches Essen gab. Ein richtig nettes Essen sollte das werden. Wir haben alle nur geschluchzt und kriegten kein Bissen runter, weil wir ja nicht wussten, sehen wir uns wieder, was wird nun überhaupt.“ [14]
Wie in ähnlichen Fällen auch, so sollten in der Spätphase des Krieges nun auch die mit „Volljüdinnen“ verheirateten „Arier“ und männliche Halbjuden zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Einer dieser Transporte, die von den örtlichen Arbeitsämtern durchgeführt wurden, führte Anfang Februar 1945 über das Durchgangslager des Arbeitsamtes Neumünster in das anhaltinische Zerbst. Hier erweiterte die OT seit Herbst 1944 unter Bewachung einen Militärflugplatz, um Düsenjäger einsetzen zu können.[15] Oskar Löthe traf hier am 13. Februar ein. Von hier aus wurde er für die Kriegsproduktion Ende März 1945 nach Halberstadt-Nordhausen verlegt, wo er das Kriegsende erlebte. Während des „Arbeitseinsatzes“ musste Oskar Lötje Misshandlungen über sich ergehen lassen. Wegen Verweigerung des „deutschen Grußes“ wurde er mit 25 Stockschlägen, verschärftem Arrest und Entziehung der Verpflegung bestraft.[16]
Die in Quickborn allein gebliebene Anna Lötje fand in dieser schweren Zeit in ihrem christlichen Glauben Trost und Halt. Auf den bei verschiedenen religiösen Landwirten stattfindenden Missionsfesten hatte Anja Lötje einen gewissen Kontakt zu einigen wenigen Menschen finden können, die aus dem Gefühl der christlichen Nächstenliebe der ausgegrenzten Familie beistanden. Hierzu gehörte der Landwirt August Storjohann, der Anna Lötje Lebensmittelkarten und Nahrungsmittel zukommen ließ (siehe Quelle).[17] Ein Sohn erinnerte sich: „Wir hatten eine Bauernfamilie gehabt, die uns unterstützt hat. Da ist der Mann sonntags immer zum Gottesdienst gefahren – die wohnten in Renzel, Familie Storjohann – und dann ist er auf dem Rückweg nach dem Gottesdienst bei uns vorbeigefahren und hat am Gebäude irgendwo etwas deponiert zu essen: Kartoffeln oder Getreide. (…) Er hat nur ans Fenster geklopft oder an die Tür geklopft und dann war er wieder weg.“ [18]
In der Nachkriegszeit erhielt die erkrankte Anna Lötje im Rahmen der Wiedergutmachungsverfahren keine Entschädigungsrente. Das Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein teilte am 25.01.1950 mit: „Der LRA [Landesrentenausschuss] konnte eine Schädigung im Sinne des Gesetzes nicht annehmen, da Frau Lötje in privilegierter Mischehe gelebt hat und keinen besonderen Beschränkungen unterworfen war.“ [19] Auch der Antrag von Oskar Lötje auf eine Beschädigtenrente wurde im April 1953 endgültig abgelehnt.[20]
Das Verhältnis der Familie Lötje zu den Quickbornern war auch nach dem Ende der NS-Zeit von einer gewissen gegenseitigen Zurückhaltung geprägt. Zwar war mit dem Zuzug der Flüchtlinge und Ausgebombten der menschliche Umgang etwas unverkrampfter, aber, so einer der Söhne, „wenn ich so richtig zurück überlege, man hat doch innerlich eine Distanz schon gehabt und behalten, weil das so eingeimpft war. Man konnte nicht so plötzlich loslassen.“ [21] Auch die Quickborner hatten bis auf den vertrauten Kirchenkreis noch lange nach Kriegsende sich der Familie Lötje eher verschlossen. Die Mutter, so der andere Sohn, hatte kaum private Kontakte gehabt: „Wahrscheinlich hatten die Leute ein schlechtes Gewissen.“ [22]
Das Ehepaar blieb christlich engagiert; besonders Anna Lötje, die lange Jahre als Organistin bei der evangelischen Kirche in Ellerau tätig war. Sie starb im Jahr 1988. Oskar Lötje, der nach dem Krieg in der Rugenberger Mühle in Bönningstedt arbeitete, war bereits 1959 verstorben.[23]
Meine Mutter, die Ehefrau von Pastor Asmussen, Stiftskirche Elmshorn, hat Anna Lötje m.W. unterstüuzt. Ich erinnere mich als kleiner Junge (Jahrgang 1932), dass Anna Lötje des öfteren bei uns zu Besuch war. Unbewusst muss bei mir ein Empathiegefühl für ausgegrenzte Menschen entstanden sein: Ich grüsste mich aus dem Fenster mit einem französischen Kriegsgefangenen auf dem Weg ins Lager von der Pieningschen Wassermühle.