„…durch einen sanften Tod erlöst“ – Paul Thomsen und die Krankenmorde in der Gauheilanstalt Tiegenhof

Thomsen's Gasthof (ehemals Hagens Gasthof), ca. 1930er Jahre (Foto: J. W. Jacobsen)
Julius und Paul (rechts) Thomsen, ca. 1930er Jahre (Sammlung: Emmi Mandler)
Todesanzeige, Holsteiner Nachrichten 24.05.1944
Mitteilung der Gauheilanstalt Tiegenhof (Bundesarchiv Berlin)
NS-Propaganda-Schaubild (Bildquelle: Benz, Wolfgang (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Berlin 1999.)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jan Decker)
Der Künstler Gunter Demnig bei der Stolperstein-Verlegung, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jan Decker)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jörg Penning)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jörg Penning)
14. Mai 1944
Kieler Straße 157, Quickborn

Dem nationalsozialistischen Rassenwahn fielen nicht nur „artfremde“, nicht zum deutschen Volk gezählte Personen, wie Juden oder Roma und Sinti, zum Opfer, sondern ebenfalls Deutsche, die aufgrund ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung nicht dem „arischen Ideal“ entsprachen und die wegen ihrer individuellen Einschränkungen und ihres erhöhten Betreuungsaufwandes für die „Volksgemeinschaft“ eine „Belastung“ darstellten. Anstatt hilfebedürftigen Menschen in ihren Lebenslagen zu unterstützen, ihnen beizustehen und sie in ihrem Anderssein anzuerkennen, reagierten die Nationalsozialisten mit Stigmatisierung und Aussonderung bis hin zur Vernichtung. Dieses betraf ebenso psychisch Erkrankte. Menschen, die wegen eines seelischen Ungleichgewichtes aus der Bahn geworfen waren und an Leistungsfähigkeit einbüßten, wurden vorschnell als „erbkrank“ etikettiert und u.a. mit Heirats- und Nachwuchsverboten belegt. Auch Quickborner waren hiervon betroffen – hierzu gehörte Paul Thomsen.[1]

Paul Thomsen wurde am 24. Dezember 1908 in Barmstedt geboren.[2] Sein Vater war der aus Barmstedt stammende Schlachtermeister Julius Thomsen.[3] Er wuchs mit vielen Geschwistern auf und war der Älteste von insgesamt sieben Brüdern. Nach dem 8-klassigen Schulbesuch und der Konfirmation lernte Paul Thomsen bei seinem Vater das Schlachterhandwerk, ging anschließend auf Wanderschaft und arbeitete u.a. in Trittau, Nahe und Hamburg als Fleischverkäufer und Schlachter. In der Schulzeit galt Paul Thomsen als guter Schüler und auch in seiner Erwerbstätigkeit war der mit 1,60 Meter Körpergröße verhältnismäßig kleine Mann stets sehr ehrgeizig und peinlich genau während seiner Arbeit.[4]

Nachdem der Vater 1928 an der Kieler Straße am nördlichen Ortsausgang der Landgemeinde Quickborn die Gastwirtschaft Bilsenerwohld von der Witwe Katharine Hagen erworben und sich hier unweit des Hofes seiner Schwester Margarete Siems niedergelassen hatte,[5] zog ein Jahr später auch der inzwischen 20-jährige Paul Thomsen von Hamburg kommend in den elterlichen Haushalt. Vermutlich berufsbedingt verließ er diesen im Mai 1930 vorerst wieder, um nach Hannover[6] und dann nach Hamburg zu ziehen.[7]

Im Sommer 1934 erkrankte Paul Thomsen plötzlich, ohne dass eine genaue Ursache ersichtlich war: Er hatte einige Tage Urlaub gehabt, die er in Quickborn verbrachte, und noch am 1. Juli 1934 mit in der Gastwirtschaft des Vaters ausgeholfen, als die Krankheit ausbrach. Abends noch war er zum Tanz ausgegangen und hatte nach der Rückkehr mit dem Vater einen eher unbedeutenden Streit gehabt, weil er wohl etwas zu viel Geld ausgegeben hatte. Was darüber hinaus an diesem Tag passierte, ist anhand der vorhandenen Quellen nicht ersichtlich.[8] Einen Tag später jedenfalls fühlte er sich so geschwächt, dass er in das Kreiskrankenhaus Pinneberg aufgenommen werden musste.[9] Es stellten sich Erregungserscheinungen ein, wie sie für die Erkrankung Schizophrenie kennzeichnend waren und am 10. Juli 1934 zu einer Verlegung in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Neustadt führten.[10]

Die 1893 gegründete Landes-Heil- und Pflegeanstalt Neustadt war neben der Pflegeanstalt in Schleswig-Stadtfelde die zweite öffentliche Pflegeanstalt in Schleswig-Holstein für Menschen mit psychischen Erkrankungen.[11] Sie wies 1934 eine Belegungskapazität von ca. 1400 Patienten auf[12] und stellte als Heilansatz die Arbeitstherapie in den Vordergrund, die in den zahlreich vorhandenen Werkstätten angewendet wurde.[13] Die medikamentöse Behandlung von psychisch Erkrankten beschränkte sich vor allem auf Interventionen bei Unruhezuständen. Als „aktive somatische Therapien“ der Schizophrenie wurden bei unruhigen Patienten die gesundheitlich gefährlichen Fieber- und Insulin-„Kuren“ und der medikamentöse Dauerschlaf angewendet. Des Weiteren wurden Verfahren der „Heilkrampfbehandlung“ eingesetzt, bei denen z.B. durch die Injektion des Medikamentes Cardiazol oder durch die Anwendung von Elektroschocks epileptische Anfälle ausgelöst wurden.[14]

In der Heilanstalt durchlebte Paul Thomsen wechselnde Gesundheitszustände. Er machte in den Krankheitsschüben einen zerfahrenen und ängstlichen Eindruck, durchlebte Phasen der Ruhe- und Schlaflosigkeit, wirkte dann aber auch wieder apathisch und starr. Der Patient führte mitunter Selbstgespräche und vernahm akustische Halluzinationen. Beispielhaft ist hier eine Eintragung in der Verlaufsdokumentation vom 21.08.1934 wiedergegeben: „Nachts viel geweint, unruhig im Bett gewühlt. Veronal [Schlafmittel, d. Verf.].- Am Tage gehemmt, stuporös,[15] manierierte[16] Armbewegungen. Grimmassieren. Wortlos, meist gar keine Antworten.- Ißt nicht von selbst.“ [17] Zeitweilig befand sich Paul Thomsen jedoch auch in wachen und klaren Zuständen, in denen er im Freien einer Beschäftigung nachging und in der Küche der Heilanstalt beim Schlachten und Wurstmachen half. Besuch erhielt er in der Heilanstalt von seinen Brüdern, die den weiten Weg nach Neustadt nicht scheuten. Aus den Andeutungen in der ärztlichen Verlaufsdokumentation geht hervor, dass er sich eine schnelle Entlassung aus der Heilanstalt herbeisehnte.[18]

Die Ärzte der Heilanstalt sahen in Paul Thomsen einen „Erbkranken“ und meldeten ihre Diagnose im September 1934 dem Kreisarzt in Pinneberg. Darüber hinaus erstellten sie am 21. Oktober 1934 über ihren Patienten ein Sterilisierungsgutachten, das an das Erbgesundheitsgericht Kiel weitergeleitet wurde. Dieses folgte dem Gutachten und erstellte einen „rechtskräftigen“ Sterilisierungsbescheid, der am 10. Dezember 1934 Paul Thomsen in Neustadt zugestellt wurde.[19]

Die rechtliche Grundlage für die auch zwangsweise durchgeführten Sterilisierungen im Deutschen Reich bildete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933.[20] Durch die Unfruchtbarmachung sollten Personen, die als unheilbar krank angesehen wurden und von einem erblichen Leiden betroffen waren – hierzu wurden pauschal auch alle an Schizophrenie erkrankten Menschen hinzugezählt – aus sozialdarwinistischen Überlegungen heraus keine Nachkommen zeugen können, um nachfolgende Generationen nicht zu „belasten“. Insgesamt wurden annährend 400.000 Frauen und Männer im Dritten Reich unfruchtbar gemacht. Wer zu sterilisieren sei, wurde von den Erbgesundheitsgerichten entschieden, in denen jeweils ein Richter und zwei Ärzte die Erkrankungen bewerteten. 75 Prozent der an die Erbgesundheitsgerichte herangetragenen Fälle wurden von den Ärzten gemeldet.[21] Bis 1937 wurden in der Neustädter Heilanstalt 301 Patienten durch einen chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht.[22]

Dass Paul Thomsen mit der staatlich angeordneten Sterilisation nicht einverstanden war, geht aus den Eintragungen der Krankenverlaufsdokumentation hervor, in der das Pflegepersonal vermerkte: „hällt seine Sterilisierung für überflüssig und ungerecht.[23] Der Patient, dem es nach der Patientenakte seit September 1934 wieder besser zu gehen schien, wurde schließlich Mitte Dezember 1934 aus der Landesheilanstalt Neustadt entlassen. Verbunden mit seiner Entlassung war vermutlich die Zustimmung zur Unfruchtbarmachung. Die Eintragung in der Krankenverlaufsdokumentation vom 19. Dezember 1934 hierzu: „Zwecks Sterilisation ins Kreiskrankenhaus in Pinneberg gebessert entlassen.[24]

Zurückgekehrt nach Quickborn verzog er vermutlich berufsbedingt im Mai 1939 kurzfristig nach Elmshorn[25] und später zu Familienangehörigen nach Gleschendorf, nahe Scharbeutz,[26] von wo aus er im Februar 1941 nach Quickborn zu seinen Eltern zurückkehrte. Anscheinend hatte sich seine Erkrankung hier wieder verschlimmert, denn bereits drei Monate später, am 6. Mai 1941, wurde er erneut in der Landesheilanstalt Neustadt aufgenommen.[27] Diese Neuaufnahme geschah in einer Zeit, in der die aus Berlin zentral gesteuerten „Euthanasie“-Tötungen von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen auch das Land Schleswig-Holstein erreichten.

Vorausgegangen war ein auf den 1. September 1939 unterzeichnetes Schreiben Adolf Hitlers, in dem dieser seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Chef der Reichskanzlei Philipp Bouhler mit der Organisation und Durchführung der „Euthanasie“ beauftragte. In der Folgezeit wurde in Berlin eine Zentrale eingerichtet, die sich in der Tiergartenstraße 4 befand, weshalb die Durchführungen der „Euthanasie“-Tötungen in den späteren Jahren als „T4“ bezeichnet wurden. Um den Krankenmord geheim zu halten, setzte sich die T4-Zentrale aus vier Abteilungen mit den unverfänglichen Bezeichnungen Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten und Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat) zusammen. Aufgabe dieser Scheinfirmen war es, sechs als Tötungsanstalten bestimmte Heilanstalten entsprechend ihrer neuen Funktion umzubauen und zu betreiben, die zur Tötung vorgesehenen Patienten zu erfassen, die „Verlegungen“ zu organisieren, die Pflegekosten mit den Kostenträgern abzurechnen und nach den Tötungen der Patienten den Nachlass abzuwickeln als auch mit fingierten Trostbriefen an die Familienangehörigen und falschen standesamtlichen Eintragungen die Ermordung zu verschleiern. Ermittelt wurden die für die „Euthanasie“-Aktion vorgesehenen Patienten anhand von Meldebögen, die an die Heil- und Pflegeanstalten versendet und nach dem Rückversand von medizinischen „Gutachtern“ ausgewertet wurden. Anzugeben waren hier u.a. Angaben über die Erkrankung, die Dauer des Aufenthalts in der Heilanstalt, die Arbeitsfähigkeit und Kontakte zu Familienangehörigen. Auf Grundlage der Fragebogenauswertungen wurden Verlegungslisten erstellt und die Patienten offiziell aus „kriegswichtigen Gründen“ teilweise über Zwischenstationen in eine „Euthanasie“-Einrichtung verschleppt, wo sie mit Gas vergiftet und anschließend sogleich eingeäschert wurden. Insgesamt ca. 70.000 Menschen sind diesen „Euthanasie“-Maßnahmen zum Opfer gefallen.[28]

Zwei Wochen nach der Ankunft von Paul Thomsen in der Heilanstalt Neustadt erfolgte am 20. Mai 1941 von dort der erste Transport in eine „Euthanasie“-Tötungsanstalt. 140 Patienten wurden offiziell aus Gründen des Luftschutzes und der Neugestaltung des Heil- und Pflegewesens mit einem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn in die für Schleswig-Holstein zuständige „Euthanasie“-Anstalt in Bernburg (Sachsen-Anhalt) transportiert und hier noch am gleichen Tag in der dort eingerichteten Gaskammer ermordet.[29] Unter den 97 Patienten des zweiten „Verlegungstransportes“ aus der Landesheilanstalt Neustadt, der am 13. Juni 1941 erfolgte und über die Heilanstalt Königslutter als Zwischenstation erneut nach Bernburg führte,[30] befand sich auch die Quickbornerin Magda Janzen.[31] Unklar ist, ob sich die beiden Quickborner, die beide in ihrem Heimatort nur wenige hundert Meter voneinander entfernt in der Kieler Straße wohnten,[32] in Neustadt noch einmal begegneten.

Paul Thomsen blieb in dieser ersten, zentral gesteuerten Phase der „Euthanasie“ von dem Krankenmord verschont. In den Transportlisten wurde er wahrscheinlich deshalb nicht aufgeführt, da die Entscheidung über die für die „Euthanasie“ vorgesehenen Patienten in der T4-Zentrale bereits vor seinem Eintreffen in die Heilanstalt Neustadt erfolgt war und er von der Meldebogen-Aktion daher vermutlich nicht mehr erfasst wurde. Diese wurden im Juni 1940 an das Regierungspräsidium in Schleswig gesendet und von hier aus an die Anstalten in der preußischen Provinz weitergeleitet. Nach der Rücksendung der bearbeiteten Meldebögen erhielten die Anstaltsleitungen im Mai 1941 eine Kopie eines Schreibens von Gauleiter Hinrich Lohse als Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein und Beauftragter des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis X, in dem dieser ankündigte, dass demnächst eine größere Anzahl von Patienten aus den Heilanstalten der Provinz Schleswig-Holstein in andere Anstalten verlegt werden. Am 9. Mai 1941 erfolgte daraufhin in Schleswig-Holstein der erste von der Gekrat geleitete Krankentransport von Patienten aus dem Landesjugendheim und Landespflegeheim Schleswig-Hesterberg nach Bernburg und Mitte Mai erreichten die von der T4-Zentrale angefertigten Verlegungspapiere die Landesheilanstalt Neustadt.[33]

Die zentral organisierte „Euthanasie“ durch Gasvergiftung wurde am 24. August 1941 auf mündliche Anweisung Hitlers abgebrochen nachdem immer mehr Informationen über den Krankenmord in die Öffentlichkeit und in das Ausland gerieten und insbesondere der Bischof von Münster Clemens August Graf von Galen in einer Predigt die „Euthanasie“-Aktionen scharf kritisierte und damit das NS-Regime in Bedrängnis brachte und zum Handeln nötigte. Die Bevölkerung sollte in der kritischen Kriegszeit nicht unnötig beunruhigt werden.[34] Zu einem generellen Abbruch der „Euthanasie“-Aktionen kam es jedoch nicht. Vielmehr wurden die Tötungen durch Gas eingestellt und unter teilweiser Beibehaltung der Berliner T4-Bürokratie der Krankenmord dezentral auf mehrere Heilanstalten verteilt und mit unauffälligeren Methoden fortgeführt. Getötet wurde nunmehr durch medizinische Unterversorgung, Mangelernährung und Medikamentenvergiftung. Um auch diese Tötungen zu verschleiern, wurden erneut „kriegswichtige Gründe“ angeführt. Zeitgleich mit der Anweisung Hitlers, die zentralen „Euthanasie“-Aktionen einzustellen, wurde nach Gesprächen zwischen dem T4-Organisator Karl Brandt und den für die Koordination des Bauwesens in der Kriegszeit zuständigen Fritz Todt angekündigt, für bestimmte luftgefährdete Städte Ersatzbauten für beschädigte Krankenhäuser einzurichten und hierfür Ersatzräumlichkeiten zu schaffen, wobei hierbei auch die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten einzubeziehen waren.[35] Um kriegsversehrte Personen aufzunehmen, sollten Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen ihre Betten freimachen und in andere Anstalten verlegt werden. In einigen dieser Ausweicheinrichtungen wurden die hilfebedürftigen Menschen nach der Ankunft entweder gezielt getötet oder das Ableben des Patienten durch Unterversorgung bewusst in Kauf genommen. Betitelt wurden diese Verlegungen, die die Katastrophenhilfe mit dem Krankenmord verbanden, mit der Bezeichnung „Aktion Brandt“.[36]

Als Ausweichkrankenhaus vorgesehen war auch die Landesheilanstalt Neustadt, die ab September 1941 auf Veranlassung der Organisation Todt und unter organisatorischer Beteiligung der Gekrat zu räumen war, um Kriegsverletzten aus der Kieler Bevölkerung zur Verfügung zu stehen. Innerhalb von zwei Wochen wurden über 700 Anstaltsinsassen verlegt. Die ersten Krankentransporte mit der Reichsbahn mit 366 Patienten fanden am 26. September 1941 statt und führten in die Heilanstalten in Sorau, Landsberg und Branitz. Zwei Tage später fand ein weiterer Transport statt. Diesmal wurden 70 Frauen und 280 Männer, darunter auch Paul Thomsen, mit einem Sonderzug in die brandenburgische Landesheilanstalt Neuruppin gebracht.[37] Die überfüllte Heilanstalt in Neuruppin war hierbei nur eine Zwischenstation. Mithilfe der weiterhin bestehenden T4-Zentrale organisierte die Gekrat zwei Krankentransporte zur „Entlastung“ der Anstalt, wodurch 169 der 350 ehemaligen Neustädter Patienten weiterverlegt wurden. Am 21. November 1941 brachte ein Zug der Reichsbahn Paul Thomsen und 111 weitere männliche Patienten in einem ersten Transport und am 25. November 1941 nochmals 26 männliche und 31 weibliche Patienten in einem zweiten Transport in die Gauheilanstalt Tiegenhof.[38]

Die Gauheilanstalt Tiegenhof befand sich 50 Kilometer von Posen entfernt, nahe am Stadtgebiet von Gnesen im Reichsgau Wartheland. Vor der deutschen Besetzung trug die 1894 gegründete Einrichtung den Namen „Psychiatrische Anstalt Dziekanka“. Die Anstalt war ein eingezäunter Gebäudekomplex mit einer Kapazität von 1.200 Betten. Bis zur Besetzung Polens durch die Wehrmacht wurden hier die fortschrittlichsten Heilmethoden im Bereich der Heil- und Pflegetherapie für psychisch erkrankte Menschen angewendet.[39] Als Direktor war seit 1934 der Arzt Dr. Victor Ratka eingesetzt, der nach der Besetzung seine volksdeutsche Zugehörigkeit betonte, Direktor der Anstalt blieb und zeitweise als „Gutachter“ in der Berliner T4-Zentrale tätig war.[40] Im Laufe des Jahres 1939 entließ er den Großteil des polnischen Personals und ersetzte dieses durch reichs- oder volksdeutsche Ärzte und Pfleger. Die verbliebenen polnischen Pflegekräfte wurden hingegen degradiert und zu einfacheren Arbeitstätigkeiten herangezogen.[41]

Noch bevor im „Altreich“ die zentral gelenkte „Euthanasie“ –Tötungen an Erwachsenen stattfanden, wurden bereits gleich nach der Besetzung Polens polnische und jüdische Anstaltsinsassen in entlegenen Gebieten erschossen oder mit Giftgas ermordet, während deutschstämmige Patienten zumindest vorläufig überlebten. So wurden auch im Verwaltungsbezirk Warthegau bis Ende 1939 mindestens 595 polnische Patienten der Anstalt Tiegenhof in Posen in einer Gaskammer ermordet. Ab Januar 1940 wurde die Ermordung auf mobile Gaskammern, den Gaswagen, umgestellt, in dem die restlichen nichtdeutschen Patienten von Tiegenhof mit Kohlenmonoxyd durch Sonderkommandos der SS umgebracht wurden.[42]

Nachdem mit der Tötung von insgesamt 1.043 polnischen und jüdischen Patienten[43] die Gauheilanstalt Tiegenhof bis auf wenige volksdeutsche und arbeitsfähige polnische Patienten leergemordet war, wurde die Anstalt ab Mitte 1940 mit neuen Patiententransporten u.a. aus dem nördlichen Reichsgebiet aufgefüllt. Hierunter befanden sich 66 deportierte Menschen mit Behinderungen aus den Alsterdorfer Anstalten, die ab dem 14. November 1941 über die Hamburger Anstalt Langenhorn in Tiegenhof eintrafen. 65 von ihnen überlebten die Zeit des Nationalsozialismus nicht, denn auch hier ging der Krankenmord an verlegten deutschen und neu eintreffenden polnischen kranken Patienten bis Kriegsende weiter.[44] Getötet wurde nun jedoch nicht mehr durch die SS mit Kohlenmonoxid, sondern durch die (volks-)deutschen Ärzte und Pfleger mithilfe der pharmakologischen Mittel Chloralhydrat, Luminal und Skopolamin, die oral, über Sonden, durch Injektionen oder durch das Vermengen mit der Kost verabreicht wurden.[45] Angeliefert wurden die Arzneigifte zumeist vom Kriminaltechnischen Institut des Reichskriminalpolizeiamtes in Berlin, das neben Tiegenhof auch andere Anstalten und auch die T4-Zentrale direkt belieferte.[46] Das Ableben der Patienten erfolgte in separaten „Sterbezimmern“, die mit zwei bis sechs Betten ausgestattet waren.[47]

Über diese Krankenmorde gab ein ehemaliger polnischer Pfleger in einer Vernehmung nach dem Krieg Auskunft: „Auf die Frage, ob mir Fälle bekannt seien über Tötung von Kranken durch Verabreichung übermäßiger Mengen von Schlafmitteln, erkläre ich: Derartige Fälle kamen sehr häufig vor und über dieses Thema unterhielten sich die polnischen Pfleger. Ich selbst habe während meines Nachtdienstes auf Abteilung II sehr viele Fälle des Ablebens von Patienten gesehen, die absolut nicht den Anschein eines bevorstehenden Ablebens erweckten. In der Abteilung, in der ich Dienst machte, gab es bis zu 6 (sechs) Todesfälle täglich. Einmal rief ich Jobst [ein deutscher Oberpfleger, d. Verf.] des Nachts zu einem unruhigen Kranken. Jobst kam zur Abteilung, entnahm der Seitentasche seines Mantels eine gefüllte Injektionsspritze und gab – indem er die Spritze in der ganzen Hand derartig hielt, damit ich diese nicht sehen sollte – dem Kranken eine Injektion, welcher nach kurzer Zeit verstarb. Ich habe des öfteren gesehen, daß die deutschen Pfleger … den unruhigen Kranken ein mir nicht bekanntes Mittel verabreichten in Form einer Lösung im Glas. Diese Lösung hatte eine gelbe Färbung, deshalb sagten diese Pfleger, sie verabreichten den Kranken „die gelbe Suppe“. Nach Erhalt dieses Mittels verstarben die Kranken. Während meines Nachtdienstes bemühte ich mich festzustellen, was das für ein Mittel sei, es gelang mir jedoch nicht die Schubladen in den Zimmern der Abteilungsältesten zu öffnen. (…) Ich kenne Chloralhydrat als Schlafmittel. Vor dem Kriege gaben wir den Kranken diese Lösung in sehr kleinen Dosierungen, indem wir die Tropfen in einen Teelöffel auszählten. Während des Krieges verabreichten die deutschen Pfleger den Kranken dieses Mittel glasweise. Ich bin davon überzeugt, daß eine Überdosierung dieses Schlafmittels zahlreiche Todesfälle nach sich zog und ich selbst war Zeuge dessen.

In einem konkreten Fall gab der Pfleger an: „Eines Tages übergab mir Hoppe [ein deutscher Pfleger, d. Verf.] als ich den Nachtdienst in Abteilung IV übernahm, einen aus dem Gefängnis in Sieradz eingelieferten Patienten, der im Separatzimmer lag, wobei er mir sagte, der Patient sei behandelt worden, er hätte eine ansteckende Krankheit und deshalb hätte ich mich ihm nicht zu nähern. Ich ging jedoch in das Separatzimmer hinein. Der Kranke war ein kräftiger Mann, er hatte Schaum auf den Lippen, er atmete schwer, der Pulsschlag war kaum festzustellen. Gegen Morgen war der Kranke verstorben. Wie ich annehme, infolge einer Injektion.[48]

Aber nicht nur durch Medikamentenvergabe wurde getötet, sondern auch durch die bewusste Unterversorgung mit Lebensmitteln, wie der gleiche Pfleger in den Vernehmungen anmerkte: „In diesem Zusammenhang möchte ich hinzufügen, daß die hohe Sterblichkeitsziffer der Kranken gleichfalls verursacht worden war durch die mangelnde Ernährung der Patienten. Ich nehme sogar an, daß dies beabsichtigt war. Ich habe nämlich gesehen, daß die Kranken verschiedene hinsichtlich der Menge Essensportionen erhielten. Die arbeitsfähigen Kranken erhielten reichlichere Portionen als diejenigen, die schon nicht mehr arbeiten konnten. Letztere erhielten nämlich völlig unzureichende Portionen um überhaupt den Kranken am Leben zu erhalten. Ich bin der Meinung, daß die Schuld am Aushungern der Patienten die Abteilungsältesten tragen, die darüber entschieden, wie die in die Abteilung gelieferte Ernährungsmenge aufzuteilen sei.[49]

Die Frage der Arbeitsfähigkeit war nicht das einzige Kriterium, das über Tod oder Leben eines Patienten entschied, sondern auch, inwieweit der Patient sich in den Pflegebetrieb einfügte und dem Personal wenig „Probleme“ bereitete. Eine polnische Pflegerin äußerte über die Auswahl der ermordeten Patienten: „Nach meinen Beobachtungen handelte es sich hier um unruhige, laute und insbesondere um solche Kranke, die aggressiv waren oder die Wäsche unbrauchbar machten.[50]

Die Verstorbenen wurden ab 1942 auf dem anstaltseigenen Friedhof in Tiegenhof beigesetzt.[51] Ein Krankenpfleger erinnerte sich hieran: „Ich war beim Vorbereiten der Gräber für die im Spital verstorbenen Patienten beteiligt. Gemeinsam mit Patienten schaufelten wir die Gräber auf dem Friedhof aus, in welchen weitere Leichen untergebracht wurden. Es waren dies Massengräber. Die Beerdigung fand offiziell statt, die Leichen wurden aus der Leichenhalle in einem Sarg zum Friedhof gebracht, das Hinablassen der Leichen in das Grab fand jedoch nicht mit dem Sarg statt, sondern derartig, daß der Boden des Sargs geöffnet wurde und die Leichen selbst ins Grab fielen. Ich berichtige dahingehend, daß der Sarg ins Grab hinabgelassen wurde, und dort wurde der Boden geöffnet, worauf der Sarg nach oben gezogen wurde für das nächste Begräbnis. Wenn bei der Beerdigung Verwandte des Verstorbenen teilnahmen, wurde mit dem Herausziehen des Sarges bis zum Abmarsch der Verwandten gewartet. Sofern die Verwandten länger verblieben, wurden sie delikat vom Friedhof weggebeten.[52]

Zur Verschleierung der wahren Sterbeumstände gab die Anstalt gegenüber den Angehörigen zumeist als Todesursache Blutvergiftung, fieberhafter Darmkatarrh, allgemeine Entkräftung oder Lungenentzündung an.[53] Eine genaue Angabe über die Gesamtzahl der in der Gauheilanstalt Tiegenhof verstorbenen Menschen konnte aufgrund der lückenhaften Quellenlage in der Nachkriegszeit nicht ermittelt werden.[54] In aktuellen Forschungen wird die Opferzahl auf 5.000 Menschen geschätzt.[55] Das Ausmaß des Massenmordes in Tiegenhof lässt sich beispielhaft anhand der Sterblichkeit der aus der Anstalt Langenhorn eingelieferten Patienten angeben. In den drei Transporten aus Hamburg vom 14., 20. und 27.11.1941 wurden 203 Menschen nach Tiegenhof deportiert.[56] Von diesen überlebten 173 Personen (85,2 Prozent) das Kriegsende nicht.[57]

Am 21. Januar 1945 wurde Tiegenhof von der Roten Armee befreit.[58] Die deutschen Ärzte und das deutsche Pflegepersonal hatten sich inzwischen schon im Westen abgesetzt. Als einige von ihnen Anfang der 1960er Jahre über ihre Tätigkeit in Tiegenhof vernommen wurden, kann sich keiner an Verbrechen erinnern. Der aus dem Baltikum stammende Volksdeutsche und ehemalige Oberarzt der Frauenabteilung, Dr. Wladimir Nikolajew, der inzwischen in Uelzen wohnhaft war, erklärte: „Mir persönlich ist kein Fall der Tötung eines Patienten der Gauheilanstalt Tiegenhof bekannt.“ [59] Lediglich die nach dem Krieg in Ulm niedergelassene Ärztin Dr. Praetorius berichtete von Defiziten in der Patientenunterbringung, die sie allerdings verharmlosend äußeren Umständen zuschrieb: „Damals war die Versorgung der Kranken nicht ausreichend. Kranke und Pflegepersonal lebten den ganzen Winter über in Räumen, die überhaupt nicht geheizt wurden. So war es kein Wunder, dass viele der sowieso schon leicht anfälligen Geisteskranken krank wurden.[60]

Paul Thomsen hat die Befreiung nicht mehr miterlebt. Nach 2 ½ Jahren Aufenthalt in der Gauheilanstalt Tiegenhof starb er hier am 14. Mai 1944.[61] Die Eltern in Quickborn erhielten die Mitteilung, dass ihr Sohn an Lungenentzündung gestorben sei.[62]  Ob die Familie etwas geahnt hatte über die genauen Verhältnisse in Tiegenhof, ist nicht bekannt. In der von ihr aufgegebenen Todesanzeige, in der bekanntgegeben wurde, dass die Beerdigung bereits stattgefunden habe, war zu lesen: „Am 14. Mai wurde unser lieber Sohn, Bruder und Schwager Paul Thomsen im 36. Lebensjahr von seinem schweren Leiden durch einen sanften Tod erlöst.“ [63]

Am 1. Dezember 2015 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig in Erinnerung an Paul Thomsen vor seinem ehemaligen Wohnhaus in der Kieler Straße Nr. 157 einen STOLPERSTEIN. Er trägt die Inschrift:

HIER WOHNTE
PAUL THOMSEN
JG. 1908
SEIT 1934 VERSCHIEDENE
HEILANSTALTEN
„VERLEGT“ 21.11.1941
HEILANSTALT TIEGENHOF
ERMORDET 14.5.1944

Veröffentlicht von Jörg Penning am

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