Ein Grab auf dem Nordfriedhof und der Krankenmord in Meseritz-Obrawalde

Sterbefallbescheinigung des Standesamtes Meseritz-Obrawalde (Archiv der Ev.-luth. Kirchengemeinde Quickborn-Hasloh, Bestand 29 Standesamtliche Bescheinigungen)
STOLPERSTEIN für Anita Schönberger in der Herderstraße 7 in Hamburg-Uhlenhorst, Verlegung am 24.10.2020 (Foto: Peter Hess)
26. November 1943
Nordfriedhof, Quickborn

Am 26. November 1943 wurde unter Mitwirkung von Pastor Metzendorf jun. auf dem Quickborner Nordfriedhof eine junge Frau beerdigt, die ursprünglich aus Hamburg stammte. Dass die Beisetzung der Katholikin Anita Schönberger, die nur das 30. Lebensjahr erreichte, in Quickborn stattfand,[1] ist wahrscheinlich mit dem Wohnortswechsel des Bruders Franz Schönberger zu erklären, der vermutlich kriegsbedingt von Hamburg in die Landgemeinde zog und seine Schwester an seinem neuen Wohnort beerdigen wollte.[2]

Anita Schönberger wurde am 30. März 1913 im damals zum Kreis Pinneberg gehörenden Lokstedt geboren und stammte aus Hamburg-Uhlenhorst. Unter beengten Wohnverhältnissen lebte sie hier mit ihren Eltern, ihrer Schwester und deren Ehemann im 1. Stock eines Hinterhauses in der Herderstraße 7 in einer 2-Zimmer-Wohnung.[3] Ab dem 17. Juli 1940 befand sich die an Epilepsie[4] erkrankte Anita Schönberger in der Anstalt Langenhorn.[5]

Die 1893 gegründete Anstalt Langenhorn, heute Asklepius Klinik Nord, war seit 1936 Hamburgs einzige staatliche Einrichtung für psychisch erkrankte Menschen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden von hier aus über 4.000 Patienten in andere Anstalten verlegt, von denen die meisten Hilfsbedürftigen im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ umkamen.[6] Wurden diese Verlegungen anfangs noch durch die T4-Zentrale in Berlin organisiert und die Tötungen in hierfür hergerichtete Anstalten durch Giftgas vorgenommen, so begannen die Nationalsozialisten diese Mordpraxis umzustellen, nachdem sich zeigte, dass die Tötungen sich zunehmend nicht mehr gegenüber sensibilisierten Teilen der Bevölkerung, der Kirche und dem Ausland verheimlichen ließen. Fortan wurde die „Euthanasie“ eher dezentral gelenkt und mit unauffälligeren Methoden fortgesetzt.[7] Anlass hierzu bot eine unter der Bezeichnung „Sondereinsatz Brandt“ bezeichnete Umstrukturierung des Sanitäts- und Gesundheitswesens. Um kriegsverwundete Personen zu versorgen, wurden zum einen Ausweichkrankenhäuser errichtet, zum anderen Bettenplätze geschaffen, indem Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten verlegt wurden.[8] In diesem Zusammenhang fanden zwischen März 1943 und Mai 1944 insgesamt 10 Verlegungstransporte von insgesamt 507 Patienten aus Langenhorn in die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde statt.[9] Unter den Patienten befand sich auch Anita Schönberger, die am 2. November 1943 verlegt wurde.[10]

Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde lag in der Provinz Pommern (heute: Obrzyce/Miedzyrzecz in Polen) und wurde 1904 eröffnet. Sie bestand aus einem 114 Hektar großen Gelände, auf dem sich neben den Anstaltsgebäuden landwirtschaftliche Flächen und ein anstaltseigener Bahnanschluss befanden. Die Heilanstalt bot unter Nutzung aller Flächen Platz für mindestens 2000 Betten.[11] Aufgrund ihrer ländlichen Abgeschiedenheit und dem direkten Bahnanschluss bot sie ideale Bedingungen, um die „Euthanasie“-Transporte aufnehmen zu können.
Die Umstellung von einer Heilanstalt in einem Ort des Krankenmordes geschah ab Herbst 1941,[12] nachdem mit dem NSDAP-Kreisleiter Grabowski und dem Medizinalrat Dr. Mootz die Posten der Direktion und der ärztlichen Leitung neu besetzt wurden.[13] Aus mindestens 26 Herkunftsanstalten[14] wurden mehrere tausend Patienten mit der Bahn mit jeweils 60 bis 200 Personen je Transport hierhergebracht und bereits am Bahnhof auf ihre Arbeitsfähigkeit selektiert und auf verschiedene Anstaltshäuser verteilt.[15] Noch arbeitsfähige Personen wurden in der anstaltseigenen Landwirtschaft und Werkstätten sowie in Industriebetrieben eingesetzt. Patienten hingegen, die nicht mehr leistungsfähig waren, eine hohe Pflegeintensität aufwiesen oder von denen vermutet wurde, dass sie keine hohe Lebenserwartung mehr aufwiesen, waren gleich für den „Gnadentod“ vorgesehen. Ermordet wurden die Patienten in sogenannten „Isolierkammern“ durch die überdosierte Vergabe der Schmerz- und Beruhigungsmittel Morphium, Scopolamin, Veronal oder Luminal.[16] Auch Erschießungen und die Injektion von Luft sollen zur Tötung angewendet worden sein, wenn Medikamente fehlten.[17] Darüber hinaus starben Patienten an vorsätzlich herbeigeführter Erschöpfung und Unterernährung.[18]
In dem Jahr 1943, in dem auch Anita Schönberger nach Meseritz-Obrawalde deportiert wurde, starben 2.260 Menschen in der Anstalt.[19] Insgesamt fanden zwischen 1942 bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 29. Januar 1945 schätzungsweise annährend 7.000 Menschen hier den Tod.[20]

Am 16. November 1943, 14 Tage nach ihrer Verlegung von Langenhorn nach Meseritz-Obrawalde, starb Anita Schöneberger in der Anstalt offiziell an „Gehirnlähmung im Krampfanfall“.[21]

Am 24. Oktober 2020 wurde in Erinnerung an Anita Schönberger in der Herderstraße 7 in Hamburg-Uhlenhorst, dem letzten Wohnort des „Euthanasie“-Opfers, ein STOLPERSTEIN verlegt.

Veröffentlicht von Jörg Penning am

Ein Hinweis zu “Ein Grab auf dem Nordfriedhof und der Krankenmord in Meseritz-Obrawalde”

  1. Martina Köllner sagt:

    Danke für den Beitrag. Obwohl ich in meinem Buch (Die am Meer wohnen) den Euthanasie-Tod meiner Tante Adelheid Radke 1942 in Obrawalde verarbeitet habe, lässt mich das Thema nicht zur Ruhe kommen. Sie wurde nur fünfzehn Jahre alt.
    Ich hatte mir aus dem Landesarchiv in Berlin den Sterbeeintrag des Standesamtes Meseritz Obrawalde zu Adelheid schicken lassen.
    VG, Martina Köllner

  2. Petra Pleschinger sagt:

    für mich sehr hilfreich bzgl Literaturangaben für die Recherche zu einer Verwandten aus Berlin mit letztem nachgewiesenen Aufenthaltsort 1944 in Obrawalde

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