„Parasit im deutschen Volkskörper“ – die Verfolgung von Franz Kneip

Briefbogen 'Kneip's Emulsion'
21. April 1938
Friedrichsgaber Straße 86, Quickborn

In der Friedrichsgaber Straße in Quickborn-Heide lebte ab Sommer 1930 der Chemiker Franz Kneip mit seiner Lebensgefährtin Hermine Harmsen. Kneip hatte hier ein Stück Land mit einer Holzbaracke der früheren Sprengstoffwerke gepachtet und versuchte mit der Herstellung und dem Vertrieb eines Heilmittels seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.[1] Er geriet aufgrund seines Lebenswandels und seiner politischen Einstellungen mehrmals in Kontakt mit den nationalsozialistischen Repressionsorganen.

Franz Kneip wurde 1884 in Bremen als Sohn eines Hutmachers geboren. Nach der vorzeitigen Beendigung der Volksschule versuchte er sich durch verschiedene oftmals eher kurzfristige Erwerbstätigkeiten über Wasser zu halten. Er war Laufbursche, ging auf Wanderschaft, arbeitete in Hamburger Fabriken und auf der Werft Blohm & Voß. Nach dem Ersten Weltkrieg eröffnete er mit seinen Ersparnissen ein Zigarren- und dann ein Kräutergeschäft, die sich jedoch nicht lange halten konnten. Er fand ein Anstellung bei der Firma Kräuter Meyer und musste auch hier wieder gehen, als diese in Konkurs ging. Seine beruflichen Vorerfahrungen im Bereich der Heilkräuter, sein geringer Ausbildungshintergrund und die damit verbundenen geringen Berufsperspektiven sowie seine Weiterbildung an der Volkshochschule in den Fächern Chemie und Naturwissenschaften werden in ihm den Entschluss gereift haben, nochmals den Versuch zu wagen und sich mit der Herstellung von Heilmitteln eine eigene Existenz aufzubauen. Er begann zunächst in Bergedorf, dann ab 1930 in Quickborn-Heide mit „Kneip’s Emulsionen“ ein Nähr- und Stärkungsmittel herzustellen, das laut Werbung bei Lungentuberkulose und sämtlichen Krankheiten der Atmungsorgane eingesetzt werden konnte.  Von medizinischen Sachverständigen wurde die Wirkungsweise jedoch in Frage gestellt.[2]

In Quickborn-Heide erzeugte er seine Emulsionen unter eher einfachen Arbeitsbedingungen. Behilflich war ihm hierbei Hermine Harmsen, mit der er seit vielen Jahren in einer „polnischen Ehe“ zusammen lebte.[3] Harmsen war 1881 in Hamburg geboren und vor dem Ersten Weltkrieg 15 Jahre im Ausland als Erzieherin tätig gewesen.[4] Aufgrund des unsteten Lebenswandels, der mysteriös erscheinenden Erwerbstätigkeit und einer zeitweiligen Abhängigkeit von öffentlichen Unterstützungsleistungen gerieten beide schnell in das Blickfeld des Nationalsozialisten und Amtsvorstehers der Ortspolizeibehörde Wilhelm Kolz. Er ließ beide im Rahmen der 1938 geplanten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ausführlich hierzu siehe die Spur „Hermann Bruhn“) auf die Liste der potenziell zu verhaftenden Personen nehmen. In einem Bericht vermerkte Kolz über Kneip: „K. bewohnt eine primitive Wohnlaube und vertreibt eine Emulsion. (…) Die Herstellung und der Vertrieb dieses Präparats liegt völlig im Dunkeln. Es besteht begründeter Verdacht, daß er dieses Mittel in unhygienischen Behältern und ebensolchem Raume (Wohnlaube) herstellt und heimlich außerhalb Quickborn’s zum Versand bringt. Seit Jahren wird Kneip aus öffentlichen Fürsorgemitteln unterstützt und zwar mit Unterbrechungen. Auch nimmt er das Winterhilfswerk in Anspruch. Seine Unterstützungsanträge begründet er damit, dass er seinem Gewerbe nicht nachgehen könne wegen Mangels an Mitteln. K. lehnt Arbeitsvermittlung und Pflichtarbeit ab, indem er überhaupt nicht zur Vermittlung geht und begründet dieses mit Arbeitsunfähigkeit. [5]

Insgesamt acht Quickborner, denen man eine mangelnde Arbeitsdisziplin vorwarf, wurden am 21. April 1938 festgenommen und vier Wochen im Gerichtsgefängnis Pinneberg eingesperrt, wovon drei Verhaftete im Anschluss in das KZ Buchenwald verschleppt wurden.[6] Von der Inhaftierung im Pinneberger Gefängnis betroffen war auch Franz Kneip. Nicht verhaftet wurde Hermine Harmsen. Sie blieb hiervon vermutlich verschont, da die vom Landrat verfügte Anordnung die Festnahme von männlichen „arbeitsscheuen“ Personen vorsah.[7] Außerdem hatte sie eine Anstellung in dem Rüstungsbetrieb Hanseatische Kettenwerke in Langenhorn angenommen.[8]

Am 18. Mai 1938 wurde Kneip wieder entlassen. In einer Erklärung hatte er zuvor „Besserung“ zu geloben (siehe Quelle).[9] Es dauerte jedoch nicht lange, da geriet er erneut ins Blickfeld der Polizei. Der Anlass hierzu ergab sich aus seinen geschäftlichen Beziehungen zu einem Bekannten aus Sachsen, mit dem er einen regen Schriftverkehr unterhielt. Diesem schrieb er: „...ja ich will mein Unternehmen nach der Schweiz verlegen, natürlich muss ich da sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn nach dem neuen Gesetz wird es mit dem Tode bestraft. Sabotage des Vier. Jahresplanes.“ Und: „Hennen darf man nicht mehr abschlachten sind alle gezählt für so viel Hennen gibt es Futter und so viel Eier müssen abgeliefert werden. Na nächstes Jahr wird es anders da wird wohl ein Schwein fett gemacht und wenn es nicht anders geht dann wird schwarz geschlachtet ungeachtet der Todesstrafe.“ In einem weiteren Brief wenige Wochen nach Kriegsausbruch erwähnt er: „Wir müssen einmal sehen sobald Ruhe ist, die gibt es erst, wenn H. [Hitler, d. Verf.] geht, die Engländer ja die ganze Welt will Frieden aber nicht mit H. schließen. Schade das man die ausl. Sender nicht hören darf, sonst könnte ich ihnen sehr viel schreiben.[10] Als dieser Bekannte in einem Friseursalon nach dem Münchener Attentat auf Hitler vom 8. November 1939 die unbedachte Äußerung machte: „Es wäre besser gewesen, es hätte in München geklappt, dann wäre der Krieg alle„, führte die Denunziation eines anderen Kunden zur Festnahme wegen staatssfeindlicher Äußerungen und zur Durchsuchung seiner Wohnung.[11] Hierbei fielen der Gestapo auch die Briefe des Franz Kneip aus Quickborn-Heide in die Hände. Er wurde daraufhin am 7. Dezember 1939 wegen „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ sowie Abhörens feindlicher Rundfunksender von der Gestapo Neumünster verhaftet. In dem Gestapo-Verhör gestand der Beschuldigte zunächst, ausländische Sender gehört zu haben. Der Gestapo-Beamte schrieb über ihn: „Mit geradezu unglaublicher Frechheit gibt Kneip bei seinen ganzen Straftaten uns seiner hochverräterischen Tätigkeit folgendes an: ‚Meine Auffassung geht dahin, daß der Krieg hätte vermieden werden können, wenn der Führer nachgegeben hätte. Ich habe auch gehofft, daß der Führer, statt einen Krieg anzufangen, sich zur wohlverdienten Ruhe setzen und sagen würde, nehmt einen anderen.'“ [12] In dem Abschlußbericht über die Ermittlungen kam die Gestapo zu der Beurteilung: „Charakterlich und politisch beurteilt ist Kneip ein Parasit im deutschen Volkskörper, der unbedingt beseitigt werden muß. (…) Durch seine Machenschaften während des Krieges zersetzt Kneip die Geschlossenheit und den Kampfwillen des deutschen Volkes in einer Art, die nur mit dem rücksichtslostesten Mittel bekämpft werden kann.[13] Vor Gericht wiederrief Kneip jedoch wieder seine Aussage. Zu Protokoll wurde gegeben: „Meine polizeiliche Aussage habe ich gemacht, weil von einem Beamten die Bemerkung von ‚in den Keller gehen‘ fiel. Ich hatte Furcht und habe deshalb das Protokoll unterschrieben.[14]
In einer darauf folgenden weiteren Vernehmung der Gestapo, in der Kneip vermutlich sehr unter Druck gesetzt wurde, sagte er aus, dass er zwar ausländische „Hetzsender“ gehört habe, dieses aber noch vor dem Verbot des Hörens ausländischer Radiosender vom 1. September 1939 geschehen sei. Vermutlich um seine Tat zu relativieren, beschuldigte er auch andere Anwohner aus Quickborn-Heide, ausländische Radioprogramme abzuhören. Die Gestapo nahm zu Protokoll: „Dann will ich Ihnen noch erzählen, daß sämtliche Anwohner der Quickborner Heide, die im Besitz eines Radioapparates sind, nach meiner Überzeugung auch noch nach dem Verbot ausländische Hetzsender abgehört haben müssen. Die Leute sagen das nicht direkt, weil sie Angst haben. Aus ihren Ausführungen muß man aber den Schluß folgern, daß sie aber ausländische Sender abhören. Wenn sie so etwas erzählen, sagen sie immer, das hätten sie in Hamburg oder sonst irgendwo gehört.[15] Bei genaueren Nachfragen gab Franz Kneip vor der Gestapo auch Personen bekannt, woraufhin der unweit von ihm wohnende Johannes Bolze verhaftet und mehrere Wochen in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Dieser gab, vermutlich ebenfalls stark unter Druck gesetzt, an, dass Kneip ihm gegenüber in einem Gespräch geäußert habe, dass das Nazi-System bald am Ende sei und die Regierung bald abdanken werde. Von den Mitgliedern der Regierung hätten die ersten schon ihr Geld ins Ausland gebracht und sie würden bald hinterhergehen.[16]

Die Anklage wegen Abhörens feindlicher Rundfunksender wurde schließlich eingestellt, da sich nicht eindeutig klären ließ, ob dieses tatsächlich zum Zeitpunkt des Verbots geschehen war. Von der Anklage blieb noch der Straftatbestand des Vergehens gegen das „Heimtückegesetz“ bestehen, wonach kritische Äußerungen gegenüber der Reichsregierung und der NSDAP unter Strafe standen. In der Anklageschrift hieß es: „Der Angeschuldigte ist ein offener Feind des heutigen Staates. Wie er in seiner Vernehmung in dem Ermittlungsverfahren… zugegeben hat, paßt ihm weder die Regierung noch das heutige System in Deutschland. Er will damit nichts zu tun haben und hat dafür nichts übrig. Seine ganze Einstellung erhellt auch seine Auffassung, daß der Krieg seiner Ansicht nach hätte vermieden werden können, wenn der Führer nachgegeben hätte. Auch hat seiner Ansicht nach der Führer den Krieg entfesselt.[17] Das Schleswig-Holsteinische Sondergericht Kiel veruteilte Kneip am 9. August 1940 zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten. Von den acht Monaten „Schutz-“ und Untersuchungshaft wurden lediglich zwei Monate der Strafe angerechnet.[18] Nach der Haftentlassung aus der Strafanstalt Neumünster am 9. März 1941 kehrt Kneip nach Quickborn-Heide zurück, um wenige Tage später nach Hamburg umzuziehen.[19] In seinem Wiedergutmachungsantrag gab er in der Nachkriegszeit an, dass er und Hermine Harmsen ihr Heim verlassen mussten, da das gepachtete Land an einen anderen Pächter vergeben wurde.Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Lebensgefährtin Hermine Harmsen zusammen. Er verstarb am 22. September 1954 mit 69 Jahren in Hamburg.[20] Aus den Wiedergutmachungsunterlagen von Hermine Harmsen, die indirekt von den Verfolgungsmaßnahmen ihres Lebensgefährten betroffen war, geht hervor, dass die Quickborner Gemeindeverwaltung noch in den 1960er Jahren den politischen Charakter der Verhaftung von Franz Kneip bestritt.[21]

Veröffentlicht von Jörg Penning am

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