REDE, NOVEMBER 2013.
(Für Elmshorn & Kiel.)
Mein lieben Mitgeschöpfe, (Ich denke, das inkludiert alle Anwesenden hier),
Es ist leider so, dass wir uns normalerweise treffen, nur um über Negatives und Trauriges zu gedenken. Das soll nicht so sein – weil das Judentum hat so viele wunderbare und wichtige Lehren, die unsere Welt dringend braucht – so viele ethische und moralische und intellektuelle und spirituelle Botschaften – aber wir sind jetzt so eine kleine Gemeinschaft hier geworden, und mit so viele anderen Problemen konfrontiert, sodass diese Stimme kaum erhoben und kaum gehört werden kann. Stattdessen treffen wir uns, wenn es um die Vergangenheit geht, und nicht um die Zukunft. Ich sage das, wissend, wie wichtig Gedenken ist – ‚Sachor! Du sollst Erinnern!“ ist ein wichtiges Gebot – aber wissend auch, dass das Judentum nicht nur in Geschichtsbücher und Stadtarchive und Gedenktafeln gehört, es gehörte einmal zum täglichen Leben und so soll es wieder sein.
Aber heute sind wir doch hier, um an die Vergangenheit zu erinnern. Und ich möchte deshalb kurze Stücke vorlesen aus einer Biographie, die ich zur Zeit schreibe – das Leben meines Grossvaters, Landgerichtsrat Walter Rothschild, der am gleichen Tag aus Baden-Baden nach Dachau verschleppt worden war.
—————————————————————————————
Aus dem Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau wissen wir, einer der Gefangenen die am darauffolgenden Tag geliefert worden war, war:-
“Rothschild, Walter
geb am 11.12.1890 in Hannover.
Letzter Wohnort vor Verhaftung: Baden-Baden.
Beruf: Landgerichtsrat i.R. (d.h. “In Ruhestand”, aber eigentlich entlassen)
Konfession: israelitisch.
Familenstand: Verheiratet
Haftkategorie: Jude, Schutzhäftling. (d.h. Für seinen eigenen Schutz!!)
Nationalität: Deutsches Reich.
Haftverlauf: am 11.11.1938 wurde er in Konzentrationslager Dachau inhaftiert: Häftlingsnummer. 21785.
Am 12.12.1938 entlassen.”
Wir haben einen Brief:
„Abs. Charlotte Rothschild
Baden Baden
Markgrafenstr. 24. 28. Nov. 1938.
An die Geheime Staatspolizei,
Karlsruhe.
Reichsstr. 24.
Mein Mann Walter Rothschild, wohnhaft Baden-Baden, Markgrafenstr. 24, geb. 11.12.1890 in Hannover, befindet sich seit 11.11.1938 in Schutzhaft Dachau Block 12 Stb. [Stube] 1.
Die Unterzeichnete bittet höflichst aus folgenden Gründen um dessen Entlassung:
In der Anlage übersende Ihnen ein Telegramm meiner seit vielen Jahren in Lugano/Schweiz wohnhaften Eltern, aus dem Sie zu ersehen belieben, dass diesselben die Zusicherung für unsere Unterkunft in Lugano gegeben haben und die behördliche Genehmigung besitzen.
Ausserdem ist mein Mann amtlich eingesetzter Testamentvollstrecker des verstorbenen Iwan Steinberger (Jude) Hannover und muss als solcher die Flüssigmachen grössere Beträge für die am 15.12.1938 fällig gewordene Vermögensabgabe der Juden besorgt sein.
Desweiteren steht er in Unterhandlungen wegen Arisierung seines eigenen Grundbesitzes, und ist seine Anwesenheit für den notariellen Akt und ebenfalls für die Vermögensabgabe unbedingt erforderlich, da ich selbst um diesen Belangen gar keinen Bescheid weiss und keine Akten besitze.
Aus obigen Gründen bitte ich daher nochmals um sofortige Freilassung meines Mannes, insbesondere deswegen, weil der Tag wegen der Vermögensabgabe, der 15. Dezember 38 vor der Tür steht.[1]
Charlotte Rothschild.
1. Anlage.“
————-
Kein junger Mann mehr, Walter wird das Lager – einen Tag nach seinem 48. Geburtstag – als ein alter Mann verlassen, und sollte auch das Land, sein Heimatland, für das er im ersten Weltktrieg gedient hat, so schnell wie möglich verlassen – nicht so einfach, wenn man krank und jetzt fast mittellos war und kaum etwas mitnehmen durfte.
So war es damals. Normale Bürger, seien sie in Dörfern oder in Städten, ‚Landjude‘ oder gebildete Richter in einen Kurstadt – sie waren ‚unerwünscht‘.
Ja, es gibt mehr, viel mehr zu Judentum und jüdische Identität als nur an diese traurigen, schaurigen Geschichten zu denken. Aber sie bleiben uns trotzdem wichtig, sie zeigen uns, was der Mensch – der gebildeter Mensch im 20. Jahrhundert – machen kann, wenn er sich nicht mehr an die Regel hält, “Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ (3. Mose 19:20.) Diese deutschen Bürger wurden von ihren eigenen Nachbarn zertreten und gedemütigt und geschlagen – nicht von ausländischen Besatzern. Von den eigenen Nachbarn, mit denen sie vielleicht Jahre, vielleicht Generationen zusammengelebt hatten.
Und deswegen stehen wir hier, heute. Wir sollen wieder lernen, was es heisst, Nachbarn zu haben, und ein Nachbar zu sein. Nur so. Nur so. Aber, nachdem alles, was auch hier in den letzten Jahren passiert ist – die rassistischen Angriffe und Morde und Verletzungen und Graffiti und Bedrohungen und mehr – wäre das schon ein Fortschritt……
Schalom.
Landesrabbiner Dr. Walter Rothschild.
———————————————-
[1] One sees that there was no point in appealing for mercy or to a good nature; her only leverage was that the Nazis wanted the assets of the Jews and would therefore need Walter’s release to enable this to be carried out.
Dieses ist das Redemanuskript für die Gedenkfeier vom 10.11.2013, erstellt und gehalten von Herrn Landesrabbiner Dr. Walter Rothschild zum 75. Jahrestag des Novemberpogroms 1938 auf dem Grundstück der ehemaligen jüdischen Synagoge auf dem Flamweg in Elmshorn.
Autor: Landesrabbiner Dr. Walter Rothschild
Veröffentlicht durch Harald Kirschninck