Die Verbrechen des  Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 im zweiten Weltkrieg und die Beteiligung des Kurt Dreyer aus Wedel

Polizeiwache Stadt Wedel: Der mehrgeschossige Gebäudekomplex des Amtsgerichtes Wedel in der Gorch-Fock-Straße entstand in zweijähriger Bauzeit zwischen 1958 und 1960. (Bild: Stadt Wedel, https://www.wedel.de/leben-in-wedel/stadtleben/polizei)
Am 13. Juli 1942 überfiel das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 die polnische Kleinstadt Józefów. Mit dem Auftrag, das damalige jüdische Ghetto zu räumen, indem die arbeitsfähigen Männer in Arbeitslager deportiert und die übrige Bevölkerung erschossen werden sollte, wurde die erste Mordaktion des Bataillons im besetzten Polen eingeläutet. Bild und Text: Akademie der Polzei Hamburg https://akademie-der-polizei.hamburg.de /gedenkveranstaltung-jozefow/
Wurde in Polen hingerichtet: Kommandeur Wilhelm Trapp. Wilhelm Trapp war ein deutscher Major der Ordnungspolizei, Kommandeur des Reserve-Polizei-Bataillon 101 und Täter des Holocaust. Unter der Verantwortung Trapps beging das ca. 500 Mann starke Bataillon eine ganze Reihe von Verbrechen: im Juli 1942 das Massaker von Józefów, am 17. August die Erschießungen von Juden in Łomazy und Deportationen nach Treblinka, Säuberungen in den Zwischenghettos, im September 1942 das Massaker in Serokomla und Geiselerschießungen in Talcyn sowie im Ghetto von Kock, darunter 78 polnische Nichtjuden, im Oktober/November 1942 die Räumungen von Radzyń, Łuków und Międzyrzec mit mindestens 6500 Toten. Im Herbst folgte die „Judenjagd“ auf versprengte Überlebende. Im Mai 1943 wurde das Ghetto in Międzyrzec endgültig deportiert. Der Historiker Christopher R. Browning zählt mindestens 83.000 Tote. Anschließend kämpfte das Bataillon an der Ostfront bis 1944/45 gegen Partisanen und Feindsoldaten. Trapp hatte sich anfangs noch wehleidig wegen der Morde gezeigt, stellte auch einzelne von Erschießungsaufgaben frei, hatte aber keine Bedenken, eine Quote von 200 Geiselerschießungen um 86 Tote zu übertreffen. Anfang 1944 war Trapp wieder in Deutschland. 1946 wurde er von den Briten inhaftiert und im Oktober 1947 an Polen ausgeliefert. Der Prozess gegen vier deutsche Täter fand am 6. Juli 1948 an nur einem Tag in Siedlce statt: Es ging nur um die Ermordung von 78 Polen, nicht um die Judenmorde. Im Dezember erfolgte die Hinrichtung von Trapp und einem Mittäter. (Quelle: Wikipedia, Bild: Hamburger Morgenpost)
Odilo Lothar Ludwig Globocnik, war ein österreichischer Kriegsverbrecher, Nationalsozialist, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei. Nach der deutschen Besetzung Polens wurde er SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des Generalgouvernements. Als Leiter der Aktion Reinhardt zur Vernichtung der Juden im Generalgouvernement unterstanden ihm die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. In seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Ostindustrie GmbH organisierte er die Ausbeutung jüdischer Arbeitskräfte mit. 1943 wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer in der Operationszone Adriatisches Küstenland ernannt, wo er die Partisanenbekämpfung und die Deportation von Juden in das KZ Auschwitz-Birkenau organisierte. Nach Kriegsende wurde er Ende Mai 1945 durch Angehörige der britischen Armee festgenommen und beging kurz darauf Suizid. (Quelle: wikipedia, Bild: Bundesarchiv )
Kurt Dreyer: Spätes Eintrittsdatum in die NSDAP Dreyer BArch_R_9361-VIII_KARTEI_6981040_Seite_1 Bundesarchiv
"Karrierreauszeichnung" : Kurt Dreyer: wohl mehr Aktivist als der "Durchreicher von Befehlen" Dreyer R 9355-780 Bundesarchiv
8. Juni 1965
Gorch-Fock-Straße 9 ehemaliges Amtsgericht, Wedel

8. Juni 1965: Die widerwillige Vernehmung des Kurt Dreyer durch Amtsgerichtsrat Kröger in Wedel

8.6.1965, Amtsgericht Wedel, Gorch-Fock-Straße 9: „Aus dem Offizierslehrgang in Dresden kam ich im April 1942 als Leutnant der Schutzpolizei der Reserve nach Hamburg zur Polizeibehörde. Hier wurde ich kurz vor dem Ausrücken dem Reservepolizeibataillon 101 als Führer des sogen. `schweren Zuges´ der 2. Komp. zugeteilt. Als das Bataillon nach Bilgoraj verlegt wurde, übernahm ich den von Hauptfeldwebel Starke geführten Zug zusammen mit der einen Hälfte des schweren Zuges. Starke blieb Führer seines Zuges, war mir aber als den Ranghöheren unterstellt. Dies war in Ulanow. Später als das Bataillon nach Radzyn verlegt wurde, baute der Kompanieführer die Kompanie um. Es wurden 3 Züge gebildet, ich übernahm den zweiten Zug. Die Führung des 2. Zuges habe ich behalten, bis ich im April, Mai oder Juni 1943 die Kompanieführung vertretungsweise übernahm. Vorher vertrat ich zwischenzeitlich etwa zweimal für kürzere Urlaubszeiten den Bataillonsadjutanten…

 Vermerk: Die Vorwürfe, die den beschuldigten Angehörigen des Kompaniestabes und des zweiten Zuges gemacht werden ergeben sich nur aus dem Vermerk Bl. 53 der Anklage beginnend mit: `Die einzelnen Aussiedlungsaktionen….´Und endend auf Bl. 55 mit `… an Ort und Stelle erschossen.´ Diese Aktenteile wurden insgesamt dem Zeugen vorgelesen. (Zur Anklage ausführlich siehe unter [1], der Verf.)

 Darauf erklärt der Zeuge Dreyer:

„Aus eigener Wahrnehmung kann ich hierzu nur in beschränktem Umfang etwas sagen. Ich weiß, dass die Leute z.B. den Befehl hatten, Ortschaften zu umstellen und abzusperren. Zuweilen hatten die Angehörigen meines Zuges im Rahmen der Kompanie auch Gettoteile durchzukämmen. Aus eigener Anschauung kann ich nicht sagen, dass Angehörige meines Zuges oder später meiner Kompanie bei solchen Absperrungen und Durchkämmungen Leute erschossen haben. Derartige Aktionen vollzogen sich unter Beteiligung erheblich größerer Verbände, die jeweils ihre bestimmten Aufgaben hatten. Mir ist bekannt, dass Angehörige meiner Kompanie bei dieser oder jener Aktion Befehl hatten, Erschießungen vorzunehmen. Ich selber habe solche Befehle nicht gegeben, auch nicht als stellvertretender Kompanieführer. Ich weiß aber, dass bei der Einteilung der angetretenen Einheiten derartige Befehle gegeben wurden. Zu dem gesamten Ausmaß, das diese Erschießungsbefehle nach dem mir vorgelesenen Vermerk aus den Akten gehabt haben können, kann ich aus eigener Wahrnehmung nichts sagen. Ich habe praktisch nur Schüsse fallen hören und im begrenzten Umfange Tote liegen sehen. So kann ich, was den Einsatz in Josefow anbetrifft, aus eigener Wahrnehmung nur sagen, dass ich vielleicht 40 – 50 Tote gesehen habe. Ich halte die Angaben in den Akten über die Zahl der Toten für viel zu hoch gegriffen“ [2].

Der Vernehmung von Kurt Dreyer durch Amtsgerichtsrat Kröger in Wedel vorausgegangen war ein vierwöchiger Schlagabtausch zwischen dessen Verteidiger Robert Neuhäuser und dem Amtsgericht auf der einen und des ermittelnden Staatsanwalts beim Landgericht Hamburg Garrelt Danker, auf der anderen Seite. Das Amtsgericht hatte sich gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft gestellt, noch vor  

dem 8. Mai 1965 die Vernehmung als geeignete Maßnahme zur Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung durchzuführen. Letztlich musste das Landgericht Itzehoe das Staatsanwaltliche Anliegen bestätigen, damit der Mitangeklagte vor der Verjährungsfrist noch einmal vorgeladen werden konnte  [3].

Das Ergebnis ist ein nach erstem Augenschein wenig aussagekräftiges Vernehmungsprotokoll. Weshalb er überhaupt vor dem Amtsgericht Wedel vernommen wurde? Dreyer wohnte hier im Ort seit Anfang 1956 in einem Einfamilienhaus mit Elbblick in der Königsberger Straße  [4].

Bild 1: Der mehrgeschossige Gebäudekomplex des Amtsgerichtes Wedel in der Gorch-Fock-Straße entstand in zweijähriger Bauzeit zwischen 1958 und 1960. (Bild: Stadt Wedel, https://www.wedel.de/leben-in-wedel/stadtleben/polizei)

 

Die  Uneinsichtigkeit und der vermeintlich blinde Gehorsam eines Hamburger Kaufmanns

Verfolgt man die Argumentation Kurt Dreyers in vorherigen und späteren Vernehmungen, so kann man von einer genauen Kenntnis und Bewusstheit der Verbrechen und ihrer möglichen strafrechtlichen Verfolgung nach dem Militärstrafgesetzbuch, sicherlich auch durch die engagierte Rechtsberatung seines Anwaltes Neuhäuser, ausgehen. Schon zwei Jahre zuvor hatte Kurt Dreyer zum Vorwurf von ihm erteilter Erschießungsbefehle behauptet, dass er seinen Gruppenführern bei der Ausgabe der „unumgänglichen Befehle“ zu den „Judenjagden“ „verständlich machte, diesen Befehl großzügig auszulegen und nicht von ihnen erwartete, dass sie ausdrücklich Jagd auf Juden machten“  [5]. Zu der von ihm befehligten Massenexekution auf dem Friedhof Miedzyrzec erklärte er:

„Ich habe selbst nichts gesehen, ich habe auch keine Schüsse gehört. Ich habe selbst auch keine Beobachtungen gemacht, dass sie (die Erschießung) überhaupt durchgeführt worden ist, habe aber nicht daran gezweifelt, weil es damals selbstverständlich war, dass Befehle durchgeführt wurden“ [6].

Seinen vermeintlichen blinden Gehorsam wiederholte er gegenüber Landesgerichtsdirektor Zimmermann: „Der Vorsitzende: `Nanu? Sie als Hamburger Kaufmann und Reservist? Hätten Sie auf Befehl auch auf ein Häufchen Tbc-Kranker geschossen, weil sie vielleicht Verwundeten die Betten wegnahmen?´ Der Angeklagte: `Ich glaube, ja´“ [7] . Allerdings glaubten ihm weder Staatsanwaltschaft noch Schwurgericht, sich nicht an der Erschießung beteiligt zu haben. Auch wie andere Mitangeklagte legte Dreyer dar, dass seine Untergebenen die Erschießungen verantworteten. Im Verständnis einer sogenannten „objektiven Abgrenzungstheorie“ [8] hätten die Ermittler ihm sogar „Recht“ geben können. Danach verantworteten diejenigen die Verbrechen, die geschossen hatten, also die unteren Chargen. Dreyer ging noch einen Schritt weiter als einer seiner Mitangeklagten (Starke, der Verf.). Der Verdacht der Ermittler fußte nicht nur auf den Bezichtigungen durch Kameraden, sondern vor allem auf seiner Stellung in der Bataillonshierarchie. Glaubt man seinen Angaben, so hatte Dreyer die Tätigkeit seiner Untergebenen nicht begutachtet. Blind vertraute er demnach ihrer Funktionstüchtigkeit und ihrem Gehorsam. Ihnen sprach er Handlungsmöglichkeiten zu, über die er selber nie verfügt hatte. Demnach wäre er nicht nur in der „Maschinerie der Endlösung“ des „dritten Reiches“, sondern auch in der des Bataillons `verstrickt´ gewesen. Warum sollte Dreyer schuldig sein, wenn er nicht geschossen hatte? Kein Angeklagter, der Befehlsgewalt ausgeübt hatte, machte Untergebene derart haftbar – auch wenn ihnen der Putativnotstand (vermeintlich, irrigerweise für gültig gehaltener Befehl, der. Verf.) zugebilligt wurde. Letztendlich scheiterte Dreyers Präzisionsversuch, sich von seiner Verantwortung zu distanzieren. Weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht glaubten ihm [9].

 

Zum Lebenslauf des Angeklagten: von der kaufmännischen Lehre über das militärisch technische Interesse zum Oberleutnant der Reserve

„Der jetzt 63 Jahre Angeklagte Dreyer ist von Beruf Kaufmann. Er wuchs zusammen mit zwei Schwestern in seinem Elternhaus in Hamburg-Blankenese auf. Mit zwei oder drei Jahren erlitt er eine Gehirnerschütterung, die ihm während seiner gesamten Kindheit öfters erhebliche Kopfschmerzen“ verursacht habe. Er besuchte das Realgymnasium bis zur Obertertia und absolvierte anschließend eine kaufmännische Lehre. Nach einer Volontärszeit arbeitete er in der Firma seines Vaters und später bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges in verschiedenen anderen Firmen als Kaufmann. Um eine militärische Ausbildung zu erhalten“, sei er 1931 dem Jungstahlhelm beigetreten, der nach der Machtübernahme in die SA überführt wurde. Er meldete sich hier zur Marine-SA, da bei dieser das Militärische und Technische im Vordergrund“ gestanden habe und weil „er gern segelte“. „Er will mit den Zielen der SA nicht einverstanden gewesen sein, es habe ihm aber der Mut gefehlt, seine Übernahme in die SA bei der Überführung des Jungstahlhelm ausdrücklich zu verweigern.“ In der Marine-SA war er zuletzt Obertruppführer.

Seit Januar 1938 war er Mitglied der NSDAP. Das Parteiprogramm wäre „ihm teilweise geläufig“, er habe „es aber als nicht so schwerwiegend bewertet.“ „Die Ereignisse der `Kristallnacht´, die ihm bekannt wurden“, habe er „für Ausschreitungen der Bevölkerung gehalten und mit einer Ahndung gerechnet „. Er habe „Hitlers Buch `Mein Kampf´ gelesen, sich aber nicht vorgestellt, zu welch schrecklichen Konsequenzen die darin enthaltenen Wertungen und Zielsetzungen führen“ würden.

„Im September 1939 wurde er mit seiner SA-Gruppe zur Polizei eingezogen und zum Luftschutzdienst eingesetzt. Die Marine-SA wurde zu einer Hundertschaft zusammengezogen. Er kam dann zum Reservebataillon 104, mit dem er im Januar 1940 im Generalgouverment eingesetzt wurde. Er hatte dort im Distrikt Lublin Wachdienst…

Später absolvierte er einen Vorbereitungslehrgang für die Offizierslaufbahn und vom Januar bis April 1942 einen Offizierslehrgang in Dresden-Hellerau.

Ab 1. April 1941 wurde er zum Leutnant der Reserve ernannt und anschließend – während seines Urlaubs – zu dem Reservebataillon 101 versetzt. Mit diesem Bataillon rückte er im Juni 1942 zu dem Sondereinsatz nach Polen aus, der Gegenstand dieses Verfahrens ist.

Er blieb bis zu seiner Verwundung durch Granatsplitter gegen Kriegsende bei dem Reservepolizeibataillon 101 und wurde nach Absolvieren eines Kompanieführerlehrgangs in Frankreich im Dezember 1943 zum Oberleutnant der Reserve befördert. Die 2. Kompanie des Reservebataillons 101 führte er bereits seit Mitte des Jahres 1943, nachdem Oberleutnant Gnade zum Wachbataillon nach Lublin versetzt worden war.

An Kriegsauszeichnungen erhielt er das Kriegsdienstkreuz II. Klasse mit Schwerter und das Eiserne Kreuz II. Klasse.

Nach Kriegsende arbeitete er zunächst bei verschiedenen Firmen und später in der Firma seines Vaters als kaufmännischer Angestellter. Im Herbst 1955 wurde er Teilhaber der Firma. Er schied dann infolge des anhängigen Verfahrens als Teilhaber aus, da Mitglieder und Angestellte der Firma es als untragbar empfanden, mit einem zu hoher Zuchthausstrafe verurteilten Chef zusammen zu arbeiten. Seither betätigt er sich als Angestellter in der väterlichen Firma. Sein Monatsgehalt beträgt 1500,– brutto.

Er ist seit 1939 verheiratet und hat drei Kinder. Er ist mit Ausnahme des anhängigen Verfahrens bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten  [10].“

 

„Beihilfe zum Mord“ – aus der Urteilsbegründung des Hamburger Landgerichtes vom 24. April 1972

„…Der Angeklagte Dreyer erkannte (ebenfalls), daß die befohlenen Massenerschießungen in Josefow und Lomazy Verbrechen waren. Er hielt die Einsatzbefehle aber trotzdem für verbindlich, weil er glaubte, der Soldat bzw. Beamte im Kriegseinsatz habe jeden Befehl ohne Rücksicht auf den Inhalt zu befolgen.

Er hat dementsprechend zu keinem Zeitpunkt versucht, sich dem Befehl zu widersetzen, und hat auch keine tiefergreifenden Erwägungen darüber angestellt. Bei dem Einsatz in Josefow hat er Gnade (sein direkter Vorgesetzter, der Verf.) gefragt, ob man sich aus den Dingen heraushalten könne. Als Gnade ihm sagte, daß bereits erfolglos Einspruch erhoben worden sei, hat er den Befehl widerspruchslos ausgeführt.“

 

Bild 2: Am 13. Juli 1942 überfiel das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 die polnische Kleinstadt Józefów. Mit dem Auftrag, das damalige jüdische Ghetto zu räumen, indem die arbeitsfähigen Männer in Arbeitslager deportiert und die übrige Bevölkerung erschossen werden sollte, wurde die erste Mordaktion des Bataillons im besetzten Polen eingeläutet.

 Bild und Text: Akademie der Polzei Hamburg https://akademie-der-polizei.hamburg.de/gedenkveranstaltung-jozefow/

 

Der Sachverhalt sei, so das Gericht, in folgender Weise zu werten:

„1. Die Taten aller Angeklagten stellen jeweils Beihilfe zum Mord dar. Alle drei Angeklagten haben mit den festgestellten Handlungen dazu beigetragen, dass die Opfer getötet wurden. Dabei handelten sie nicht mit eigenem Täterwillen, vielmehr wollten sie die von der Staatsführung und ihren Vorgesetzen, nämlich den Tätern: Hitler, Himmler, Göring, Heydrich und Globocnik, befohlenen Tötungen für diese durchführen.

Die Tötungen geschahen grausam im Sinne von § 211 StGB schon deswegen, weil die Opfer bei allen drei Einsätzen stundenlang mit ansehen und –anhören mussten, wie ihre Leidensgenossen umgebracht wurden, wissend, dass sie das gleiche Schicksal erwartet. Hierdurch wurden ihnen besondere seelische Qualen auferlegt.

Die Täter kannten und billigten dieses Geschehen aus unbarmherziger und gefühlloser Gesinnung; denn sie wussten, dass bei den von ihnen befohlenen Massenerschießungen derartige Grausamkeiten unvermeidbar waren. Der Gehilfenvorsatz der Angeklagten erstreckte sich ebenfalls auf die Umstände, aus denen sich ergibt, dass grausam getötet wurde…

 

  1. Die Handlungen der Angeklagten waren nicht gerechtfertigt, insbesondere stellt der Führerbefehl

Zur `Endlösung der Judenfrage´ keinen Rechtfertigungsgrundsatz dar, da dieser Führerbefehl geheim gehalten worden ist, kommt ihm schon aus formellen Gründen nicht Wirkung eines Gesetzes zu, das Handlungen zu rechtfertigen vermag, die dem Verbot der §§ 212, 211 StGB widersprechen. Darüber hinaus entbehrt er wegen seines verbrecherischen Inhalts jeder rechtlichen Wirkung.

  1. Alle drei Angeklagten handelten auch schuldhaft. a) Sie sind nicht nach §47 Abs.1 des Militärstrafgesetzbuches vom 10. Oktober 1940 entschuldigt, weil allen drei Angeklagten – wie oben dargelegt – bekannt gewesen ist, dass die ihnen befohlenen Handlungen Verbrechen darstellten.
  2.  in einem Verbotsirrtum hat sich lediglich der Angeklagte Dreyer befunden, da er der Meinung gewesen ist, der Befehl binde ihn trotz des von ihm erkannten verbrecherischen Inhalts. Dieser Verbotsirrtum entschuldigt Dreyer aber nicht, weil er vermeidbar gewesen ist. Dreyer hätte bei gehöriger Gewissensanspannung erkennen können, dass den Befehlen nur dann bindende Wirkung zukommt, wenn sie mit militärischen oder polizeilichen Aufgaben in Zusammenhang stehen. Schon oberflächliches Nachdenken hätte ihm gezeigt, dass die Tötung der wehrlosen jüdischen Zivilbevölkerung weder unter polizeilichen noch militärischen Gesichtspunkten in irgendeiner Weise berechtigt ist. Bei einigem Nachdenken hätte sich ihm die Überzeugung aufdrängen müssen, dass ein den militärischen und polizeilichen Aufgaben derart fernstehender, ihnen sogar zuwiderlaufender Befehl nicht verbindlich sein kann. Da sein Irrtum darauf beruhte, dass er keinerlei tiefergreifenden Erwägungen über den Charakter des Befehls und seine eigene Gehorsamspflicht anstellte, obwohl er nach Intelligenz und Persönlichkeitsstruktur zur richtigen Erkenntnis hätte gelangen können, war der Verbotsirrtum für ihn nicht unvermeidlich und vermag ihn nicht zu entschuldigen.
  3.  Keiner der Angeklagten ist infolge wirklichen oder vermeintlichen Not- bzw. Nötigungsstandes entschuldigt“ [11].

Das Urteil vom 24. April 1972 vor dem Hamburger Landgericht setzte einen letztinstanzlichen Abschluss in dem Verfahren gegen die Angehörigen des Reservepolizeibataillons 101, bei dem Kurt Dreyer als einer der drei Haupangeklagten wegen Beihilfe zum Mord an 1000 Menschen und Beihilfe zum Mord an 800 Menschen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Ihm wurde für die Dauer von fünf Jahren die Fähigkeit aberkannt, öffentliche Ämter zu bekleiden [12].

Jan Kiepe resümiert in seiner Magisterarbeit „Das Reservepolizeibataillon 101 vor Gericht – NS-Täter in Selbst- und Fremddarstellungen“: „Die Vertreter der Strafverfolgungsinstanzen ordneten sie (die Handlungen der Angeklagten, und letztlich auch das Gericht, der. Verf.) einem Bereich zwischen `Freizügigkeit´ und  `Verstrickung´ in der „Maschinerie der Endlösung der Judenfrage“ zu. Damit waren sie greifbar, ihr Handeln den Ermittlern begreifbar. Am Ende des Ermittlungs- und Strafverfahrens wurden einzig Hoffmann und Wohlauf bestraft – der dritte Verurteilte Kurt Dreyer war vor seinem Haftantritt gestorben. Den juristischen Folgen ihrer Beteiligung an der Shoa stellten sie sich allerdings nie“ [13].

Bild3: Wilhelm Trapp war ein deutscher Major der Ordnungspolizei, Kommandeur des Reserve-Polizei-Bataillon 101 und Täter des Holocaust. Unter der Verantwortung Trapps beging das ca. 500 Mann starke Bataillon eine ganze Reihe von Verbrechen: im Juli 1942 das Massaker von Józefów, am 17. August die Erschießungen von Juden in Łomazy und Deportationen nach Treblinka, Säuberungen in den Zwischenghettos, im September 1942 das Massaker in Serokomla und Geiselerschießungen in Talcyn sowie im Ghetto von Kock, darunter 78 polnische Nichtjuden, im Oktober/November 1942 die Räumungen von Radzyń, Łuków und Międzyrzec mit mindestens 6500 Toten. Im Herbst folgte die „Judenjagd“ auf versprengte Überlebende. Im Mai 1943 wurde das Ghetto in Międzyrzec endgültig deportiert. Der Historiker Christopher R. Browning zählt mindestens 83.000 Tote. Anschließend kämpfte das Bataillon an der Ostfront bis 1944/45 gegen Partisanen und Feindsoldaten. Trapp hatte sich anfangs noch wehleidig wegen der Morde gezeigt, stellte auch einzelne von Erschießungsaufgaben frei, hatte aber keine Bedenken, eine Quote von 200 Geiselerschießungen um 86 Tote zu übertreffen. Anfang 1944 war Trapp wieder in Deutschland. 1946 wurde er von den Briten inhaftiert und im Oktober 1947 an Polen ausgeliefert. Der Prozess gegen vier deutsche Täter fand am 6. Juli 1948 an nur einem Tag in Siedlce statt: Es ging nur um die Ermordung von 78 Polen, nicht um die Judenmorde. Im Dezember erfolgte die Hinrichtung von Trapp und einem Mittäter. (Quelle: Wikipedia, Bild: Hamburger Morgenpost)

 

Täterforschung …

Jan Kiepe schreibt 2007: Zunehmendes Gewicht gewinne die sogenannte Täterforschung, die sich der Dechiffrierung des monolithischen NS-Täterbegriffes widme. Einen Meilenstein setzte dabei Christopher Browning mit seiner Studie über die Ordinary Men, die im Sommer 1993 in deutscher Übersetzung erschien. Browning charakterisiere die Angehörigen des Reservepolizeibataillons 101 als „ganz normale Männer“, die, im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Eliteeinheiten eine „Negativauswahl“ darstellen würden und nicht aus antisemitischer Überzeugung gemordet hätten. Ein multikausales Geflecht aus Krieg, der Routine der Gewalt sowie der Gruppenkonformität seien als ausschlaggebende Faktoren für deren Beteiligung an der Shoah zu sehen  [14]. Die drei Jahre später erschienene Studie von Daniel Jonah Goldhagen, die sich unter anderem auch dem Hamburger Bataillon widme, lege eine monokausale Erklärung vor. Goldhagen typisiere die Männer des Bataillons als „ganz gewöhnliche Deutsche“, die töteten, „weil sie Vollstrecker des Völkermords sein wollten“  [15]. Ein spezifisch deutscher, von ihm als eleminatorisch bezeichneter Antisemitismus habe sie primär zur Judenvernichtung motiviert  [16].

Seit den vor allem durch Goldhagens Studie ausgelösten Debatten, sowie der „Wehrmachtsausstellung“ vollziehe sich in der Forschung „eine Hinwendung zum konkreten Geschehen vor Ort und damit die Annäherung auf die subjektive Dimension vor Ort“  [17].

Christopher Browning wurde jüngst im Oktober 2019 zu seinen Thesen zu den Tätern in einem Interview bei der Bundeszentrale für politische Bildung wie folgt zitiert:

„Das Bataillon teilte sich grundsätzlich in drei Gruppen auf. Eine Gruppe nenne ich die „eifrigen Mörder“: Leute, die gelernt haben, am Töten anderer Menschen Gefallen zu finden und die Gelegenheiten zur Mithilfe suchen würden. Dann gibt es die Gruppe, welche ich „die Fügsamen“ bezeichne. Die alle Befehle ausführten, aber sich nicht freiwillig meldeten. Und es gibt die Gruppe der „Ausweicher“, welche versuchten den Aktionen auszuweichen und nicht teilhaben wollten. Als der Kommandant von „101“ sagte, dass niemand zum Schießen gezwungen werden konnte, bedeutete das, dass sie andere Aufgaben zu übernehmen hätten, wie zum Beispiel die Absperrung von „Schießplätzen“, aber sie mussten kein Gewehr nehmen und Menschen aus nächster Nähe erschiessen… Die Komplizenschaft im Massenmord war sehr viel breiter, mit einer sehr viel höheren Beteiligung von Leuten, als wir bisher angenommen haben. Und viele dieser Leute entsprechen nicht unserem Bild eines Nazi-Mörders. Bisher waren es immer die eingefleischten SS-Parteifanatiker, aber nun erkennen wir, dass viel mehr Leute ohne diesen Hintergrund beteiligt waren.  Insbesondere im Jahr 1942 haben „Nichtdeutsche“, die von den deutschen Befehlshabern ausgebildet und beaufsichtigt wurden, einen Großteil der Morde ausgeführt. Die Deutschen richteten Polizeistationen mit ein paar Deutschen ein. Damit hatten sie eine ganze Kompanie örtlicher Polizisten, die sie ausbildeten. Und die Auslöschung von Juden in kleinen Dörfern durchführten und die sogenannte „Judenjagd“, bei der Verstecke im Wald gesucht wurden. Die meisten Ausführenden dabei waren keine Deutschen…“ [18].

In seiner Studie zu den „ganz nomalen Männern“ liest sich der Tatbestand der Kollaboration noch wie folgt: „Das zweite und viel wichtigere Kräftereservoir bildeten die sogenannten Trawnikis. Da Globocnik seinen Bedarf an Einsatzkräften nicht vor Ort decken konnte, überzeugte er Himmler davon, nichtpolnische „Hilfswillige“ (oder „Hiwis“) aus den sowjetischen Grenzregionen zu rekrutieren. Innerhalb des Stabes der „Aktion Reinhard“ fiel die für diese Aufgabe entscheidende Rolle Karl Streibel zu. Er und seine Männer suchten die Kriegsgefangenenlager auf, überprüften ukrainische, lettische und litauische Gefangene auf ihre antikommunistische (und damit fast ausnahmslos auch antisemitische) Gesinnung, boten ihnen die Möglichkeit, dem wahrscheinlichen Hungertod zu entgehen, und versprachen ihnen, dass sie nicht im Kampf gegen die Sowjetarmee eingesetzt würden. Zur Ausbildung kamen diese „Hilfswilligen“ ins SS-Lager bei Trawniki, wo sie schließlich unter der Leitung deutscher SS-Offiziere und „volksdeutscher“ Unteroffiziere zu national homogenen Einheiten zusammengestellt wurden. Neben der Ordnungspolizei bildeten sie das zweite große Kräftereservoir, aus dem Globocniks Privatarmee für die Kampagne zur Räumung der Ghettos hervorgehen sollte.“[19]

Aus einem Aktenvermerk Globocnik´s für den persönlichen Stab des Reichswehrführers SS vom 1. Juli 1943 über den Verlauf einer Antipartisanenaktion im besetzten Polen finden sich Anhaltspunkte, wie man im Einsatzgebiet des Reservebataillon 101 sogenannte „Volksdeutsche“ anzusiedeln, und Spannungszustände zwischen „Nichtdeutschen“ zu erzeugen gedachte:

  • im Zuge der Siedlungsaktion „Werwolf“ wurde der Raum… von der bodenständigen Bevölkerung evakuiert.
  • Der Teil südlich des Bilgorajer Waldes wird an Ukrainer übergeben.
  • Der Bilgorajer Wald selbst wird gänzlich evakuiert und nicht wieder besiedelt.
  • Der Teil nördlich des Bilgorajer Waldes… wird ebenfalls mit Ukrainern neu besiedelt…
  • Demnach bleibt der Raum südlich des derzeitigen Ansiedlungsgebietes Zamosc leer und können dort nur Volksdeutsche und Deutschstämmige angesiedelt werden…
  • Im Zuge der Aktion werden auch die Städte Tomaszow und Zamosc von Polen entsiedelt und sollen von Deutschen besiedelt werden. Demnach hätte die Sicherungsaktion folgende Auswirkung:

 

  1. Die Bevölkerung dieses Gebietes, die seit Jahrzehnten nur vom Raub und Banditentum lebt, ist entfernt.
  2. Dem Reich werden 30 000 Arbeitskräfte zugeführt.
  3. Die das deutsche Ansiedlungsgebiet umgebenden Gebiete sind dann von Ukrainern besetzt, die dann gewissermaßen ein Vorfeld bilden und dem Deutschtum friedlicher gegenüber stehen.
  4. Außerdem wird durch diese Ansiedlung der Spannungszustand der Polen auf die Ukrainer übertragen und sie so zu Abwehrkräften gemacht….[20]

Bild 4: Odilo Lothar Ludwig Globocnik, war ein österreichischer Kriegsverbrecher, Nationalsozialist, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei. Nach der deutschen Besetzung Polens wurde er SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des Generalgouvernements. Als Leiter der Aktion Reinhardt zur Vernichtung der Juden im Generalgouvernement unterstanden ihm die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. In seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Ostindustrie GmbH organisierte er die Ausbeutung jüdischer Arbeitskräfte mit. 1943 wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer in der Operationszone Adriatisches Küstenland ernannt, wo er die Partisanenbekämpfung und die Deportation von Juden in das KZ Auschwitz-Birkenau organisierte. Nach Kriegsende wurde er Ende Mai 1945 durch Angehörige der britischen Armee festgenommen und beging kurz darauf Suizid. (Quelle: wikipedia, Bild: Bundesarchiv )

  

… und die „subjektive Dimension vor Ort“

Die von interessierte Seite gerne hervorgehobene Beteiligung „Nichtdeutscher“ an den Verbrechen gegenüber der  jüdischen Bevölkerung in Polen verdeutlicht die jüngste Kontroverse über die ZDF-Serie „unsere  Mütter, unsere Väter“:  In erster Instanz hatte ein Bezirksgericht in Krakau die Macher der Serie 2018 zu einer Entschuldigung sowie zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 20.000 Zloty (umgerechnet etwa 4.500 Euro) verurteilt. Dagegen waren die Produzenten in Berufung gegangen.

Das Berufungsgericht urteilte nun, der Dreiteiler stelle weder die Rolle der Deutschen bei den Nazi-Verbrechen und ihre Verantwortung für den Holocaust infrage noch die Tatsache, dass die Polen Opfer der deutschen Besatzung waren. Auch seien die Figuren des Films fiktiv und könnten nicht mit lebenden Personen identifiziert werden. Der Film zeige jedoch Partisanen mit einer weiß-roten Armbinde und der Aufschrift „AK“ und führe aus, dass Vertreter dieser Organisation „einen Widerwillen gegen Juden hatten, ihrem Los gegenüber gleichgültig und von einer antisemitischen Haltung durchdrungen waren“. Dieser Zugang der Filmemacher führe dazu, dass die Heimatarmee als Formation wahrgenommen werde, in der eine antisemitische Haltung überwogen habe. Damit sei die Freiheit der Meinungsäußerung überschritten worden, so das Gericht. (APA/dpa, 24.3.2021).

Im Kontext des damals geltenden Militärstrafgesetzbuches, „subjektiver und objektiver Teilnahmetheorie“ (bei letzterem galt auch derjenige als Täter, der den Tatbestand, z.B. das Abfeuern von tödlichen Schüssen, eigenhändig verwirklicht hatte) bleibt im Rückblick nicht nur die geschickte „Freistellung vom Töten“ durch den Vorgesetzten (um sich selber als Gehilfen und Durchreicher von Befehlen zu inszenieren), sondern auch die gezielte Organisation der „Komplizenschaft“ durch Kollaboration eine besonders perfide Form der Abwälzung der Verantwortung für die Verbrechen der Shoah auf untere Chargen und Nichtdeutsche. Interessant wären in der Hinsicht die Inhalte der Offizierslehrgänge bezüglich strafrechtlicher Folgen eigener Handlungsspielräume, wie sie u.a. auch Kurt Dreyer absolvierte.

 

Neuere Täterforschung

Auch Frank Bajohr vom Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam kommt zu dem Ergebnis, dass der „Goldhagen-Kontroverse von 1996“ eine wichtige Funktion in der Täterforschung zukam, in der die Frage nach der Motivation der Täter zum ersten Mal in den Mittelpunkt der historiografischen Debatte rückte. Vor allem die Kontroverse zwischen Daniel Goldhagen und Christopher Browning um das Reserve-Polizeibataillon 101 und die von ihm verübten Mordtaten warf wichtige Fragen auf, die die Täterforschung bis heute beschäftigen[21]. Als „grundlegende Erkenntnisse der neueren Täterforschung“ dominierte lange Zeit die Vorstellung, dass Massenmorde von einer überschaubaren Zahl von Tätern verübt worden seien. Die neuere Forschung hat nun auf die enorme Zahl der Täter/innen und Tatbeteiligten und die von ihnen repräsentierten Institutionen hingewiesen. Mittlerweile geht die Forschung von rund 200.000 bis 250.000 deutschen und österreichischen Tätern des Holocaust aus[22].

Das Handeln der Täter wurde (jedoch) vor allem durch jene  NS-Institutionen und ihre Handlungspraxis bestimmt, in denen die späteren Täter sozialisiert und geprägt wurden. Es falle auf, dass die Forschung dieser institutionellen Handlungspraxis eine eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt habe, vor allem der „Weltanschaulichen Erziehung“, die grundlegende Feindbilder determinierte und einen Referenzrahmen schuf, der die Handlungspraxis zentral bestimmte[23]. So habe die neuere Täterforschung herausgearbeitet, dass für viele Täter der Handlungsspielraum nicht begrenzt, sondern fundamental entgrenzt wurde. So waren beispielsweise die in den Konzentrationslagern eingesetzten SS-Männer jeder rechtsstaatlich-normativen Kontrolle entzogen. Wer Häftlinge brutal behandelte, musste mit keinerlei Sanktionen rechnen. Im Gegenteil gehörte die Ausübung massiver Gewalt zu einem Initiationsritus, den die Angehörigen der Konzentrationslager-SS absolvieren mussten, deren sozialer Zusammenhalt vor allem auf gemeinsam ausgeübter Gewalt beruhte[24].

Auch das Reichssicherheitshauptamt entzog sich schon wegen seiner hochgradig fluiden Struktur allen Mustern klassischer bürokratischer Organisation. Nicht die klassische Verwaltung, sondern die „kämpfende Verwaltung“ galt als das Ideal, nicht der bürokratische Bedenkenträger oder der „Tintenritter“ durfte auf Beachtung und Beförderung hoffen, sondern der „Draufgänger“, der jenseits des Schreibtisches agierte und sich nicht durch Recht und Gesetz hindern ließ, wenn die „Reinhaltung von Volk und Rasse“ ein hartes Durchgreifen zu verlangen schien.[25]  Diese Entgrenzung der Handlungspraxis ging mit ungeahnten Karrieremöglichkeiten einher und eröffnete ehrgeizigen jungen Männern Einflussmöglichkeiten und Machtpositionen, in die sie qua Lebensalter und Qualifikation normalerweise niemals gekommen wären. Auf diese Weise beförderte die instituionell determinierte Handlungspraxis eine Radikalisierungsspirale, die für die Eskalation der Mordpraxis und das Handeln der Täter konstituiv war.[26]

 

Rudi Arendt, 27.4.2021

 

Weiterführende Literatur:

Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizei-Bataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, ISBN: 978-3-499-00247-2

Daniel Jonah Goldhagen, 1996 – Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. ISBN 3-442-15088-4.

Kiepe, Jan: Das Reservepolizeibattaillon 101 vor Gericht. NS-Täter in Selbst- und Fremddarstellungen Erschienen Hamburg 2007: LIT Verlag ISBN 978-3-8258-0523-4

Wolfgang Kopitzsch: Die Hamburger Polizeibataillone im zweiten Weltkrieg – Der „auswärtige Einsatz und seine Nachgeschichte“ in  https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/files/fzh/pdf/Jahresbericht%202019%20FZH_Jb_2019_001-212_WEB.pdf

 

Frank Bajohr, Neuere Täterforschung,Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.06.2013 http://docupedia.de/zg/bajohr_neuere_taeterforschung_v1_de_2013 

DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.243.v1

 

[1] Anklageschrift vom 3. März 1965, Bl. 53 bis Bl. 55: „Die einzelnen Aussiedlungsaktionen verliefen grundsätzlich nach demselben Schema: Zunächst wurde die jüdische Siedlung durch Angehörige der Schutzpolizei, der Gendarmerie oder fremdvölkischer Hilfswilligen Einheiten umstellt. Sodann wurde den Juden befohlen, die Häuser zu verlassen und sich zu bestimmten Sammelplätzen zu begeben. Nunmehr wurde die Häuser durch Kommandos der Sicherheitspolizei oder der Schutzpolizei nach zurückgebliebenen Personen durchsucht. Die aufgefundenen Personen, insbesondere gehunfähige  Menschen, nämlich Greise, Kleinstkinder und Kranke, wurden an Ort und Stelle erschossen. Vielfach wurden aus den auf dem Marktplatz versammelten Juden die arbeitsfähigen Menschen herausgesucht. Alle anderen Personen trieb man zu den Bahnstationen, pferchte sie in Güterwagen, so dass die Türen kaum noch geschlossen werden konnten, und transportierte sie in oft tagelangen Fahrten ohne Wasser und Verpflegung zur Vergasung in eines der Vernichtungslager. Wegen der Überfüllung der Transporte kam bereits während der Fahrt in die Vernichtungslager ein grosser Teil der Insassen ums Leben.

In manchen Fällen war es nicht möglich, den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager mit der Bahn durchzuführen, weil entweder die nächste Bahnstation zu weit entfernt lag oder kein ausreichender Transportraum (Güterwagen oder Lastwagenkolonnen) zur Verfügung stand. In solchen Fällen wurde nach der Räumung der Ortschaften die gesamte jüdische Bevölkerung in unmittelbarer Nähe des jeweiligen Ortes erschossen, und zwar in einzelnen Fällen – beispielsweise am 13.7.1942 in Josefow und am 19.8.1942 in Lomazy – jeweils bis zu 1.500 Menschen jeden Alters und Geschlechts. Die Massenexekutionen wurden mit unvorstellbarer Grausamkeit durchgeführt. In Josefow dauerten die Räumung und die Erschiessungen den ganzen Tag. Die Opfer wurden fortlaufend in kleineren Gruppen in den nahen Wald getrieben und mussten sich dort in einer Reihe auf den Boden legen, um sodann erschossen zu werden. Gegen Ende der Aktion war es den Exekutionskommandos kaum noch möglich, Stellen zu finden, an denen noch keine getöteten Juden lagen. Die aus nächster Nähe abgefeuerten Genickschüsse mit Karabinern brachten es vielfach mit sich, dass die Schädel der Opfer völlig zertrümmert oder die hinteren Schädeldecken aufgerissen wurden, so dass Blut, Knochensplitter und Gehirnteile umherspritzten und die Schützen beschmutzten. Bei der Aktion in Lomazy , der ebenfalls mindestens 1.500 Menschen zum Opfer fielen, wurden die Exekutionen zunächst durch eine fremdvölkische Einheit durchgeführt. Die Juden mussten sich entkleiden und wurden dann in Gruppen mit Stärken von 15 bis 20 Personen über einen schrägen Einstieg in die Grube getrieben, die ein Ausmass von mindestens 5 x 10 x 2 m hatte. Die Opfer mussten sich in der Grube in einer Reihe niederlegen und wurden dann erschossen. Die nachfolgenden Opfer mussten sich dann fortlaufend auf die zuvor Erschossenen legen. Die Angehörigen des Hilfswilligenverbandes, die zuerst die Exekution durchführten, wurden immer weniger, weil sie infolge übermäßigen Genusses von Alkohol alsbald nicht mehr in der Lage waren, die Erschiessungen durchzuführen , zumal das mit dem Blut der Opfer vermischte Grundwasser den Schützen, die sich direkt in der Grube befanden, schon bis über die Knie reichte. Im ganzen Grubenbereich lagen oder schwammen Leichen, viele Juden, die noch nicht tödlich getroffen waren, wuden von den nachfolgenden Opfern zugedeckt. Bei der Fortführung der Exekution durch Angehörige des Res.Pol.Batl. 101 wurde sodann vom Grubenrand geschossen.

Neben den geschilderten Formen der Aussiedlungen kleineren und grösseren Umfangs in einer Vielzahl von Fällen, die entweder zur sofortigen Tötung sämtlicher Juden oder zum Abtransport der Juden nach Tötung der transportunfähigen Menschen führten, wurde – meist nach Abschluss der Räumungen – fortlaufend im Bereich der jeweiligen Einsatzorte nach kleineren Gruppen jüdischer Menschen, die sich ausserhalb geschlossener Siedlungen aufhielten oder sich versteckt hielten, gesucht, etwaige Opfer wurden, wo immer sie angetroffen wurden, an Ort und Stelle erschossen.“ Oberstaatsanwalt Danker, 3.3.1965, Staatsarchiv HH, Bd1 213-12 002,

 

[2] Amtsgericht Wedel, 8.6.1965, in: Staatsarchiv HH, Bd1 Bl. 160 ff 213-12 002

[3] Landgericht Itzehoe, Verfügung vom 28.4.1965, in: Staatsarchiv HH, Bd1 Bl. 144 213-12 002

[4] Stadtarchiv Wedel

[5] Vernehmung Dreyer durch SoKo am 23.9.1963, in StaHH Akte 003, Bl 1623f zitiert nach: Jan Kiepe „Das Reservepolizeibataillon 101 vor Gericht“, LIT Verlag Hamburg 2007

[6] Vernehmung Dreyer durch den Untersuchungsrichter am 22.4.1965 , in StaHH Akte 005, Bl 2968, zitiert nach: Jan Kiepe „Das Reservepolizeibataillon 101 vor Gericht“, LIT Verlag Hamburg 2007

[7] Der Dialog ist zitiert, in: Hamburger Morgenpost, 7. November 1967 S.4,  aus: Jan Kiepe „Das Reservepolizeibataillon 101 vor Gericht“ , LIT Verlag Hamburg 2007 alle S. 129

 

[8] Zur Abgrenzungstheorie: Besondere Einsätze von Polizeiverbänden wie die des Reservebataillons 101 und anderer militärischer Verbände in den okkupierten Gebieten Osteuropas unterlagen dem Militärstrafgesetzbuch (MiStGB).  Nach § 47 Absatz 1 MiStGB haftete der befehlshabende Vorgesetzte für den Befehl, wenn dieser ein Strafgesetz verletzte. Untergebene hafteten für ihre Teilnahme, wenn ihnen nachgewiesen wurde, einen rechtswidrigen Befehl wissentlich ausgeführt oder eine Exzesstat, eine Handlung außerhalb des Befehlsrahmens, begangen zu haben. Stellte das Gericht eine geringe Schuld des Angeklagten fest, so sah es von einer Bestrafung ab (§47 Absatz 2 MilStGB). Straffrei ging auch derjenige aus, der dem Gericht nachweisen konnte, dem Putativnotstand (subjektiver Notstand) unterlegen zu haben, weil er „irrig an das Vorliegen einer Gefahr für Leib und Leben glaubte“, „auch wenn diese Gefahr „tatsächlich nicht gegeben war“. Nach der Schuldprüfung mussten Richter die Teilnahmeform des Angeklagten ermitteln. Er war als Täter (§47 StGB) oder als Gehilfe (§49 StGB) zu verurteilen. Mit dieser „Abgrenzungstheorie“ ließen sich die „Haupt- und Randfiguren ermitteln“, die zum „Organisationsverbrechen“ der „Endlösung der Judenfrage“ beigetragen hatten. Nach der „subjektiven Abgrenzungstheorie“ – auch Teilnahmetheorie“ genannt … war derjenige Täter (§47 und § 211 StGB), der eine Straftat aus eigenem Willen herbeigeführt oder dabei exzessiv, d.h. über den Befehlsrahmen hinausgehend, gehandelt hatte. Damit hatte er das Tatgeschehen beherrscht. Hauptindiz für den Täterwillen war das Interesse am Taterfolg. Einer Qualifikation zum Täter folgte die Verurteilung zu lebenslanger Zuchthausstrafe (15 Jahre) durch die absolute Strafandrohung nach §211 StGB.

Gehilfe (§49 und §211 StGB) war derjenige, der seinen eigenen Willen dem eines anderen (Befehlshabenden) untergeordnet und durch sein Handeln die ihm „fremde Straftat“ hervorgerufen bzw. unterstützt hatte. Das Gericht konnte Strafen zwischen drei und 15 Jahren Zuchthaus aussprechen. War dem Angeklagten die zur Last gelegte Tat nicht nachzuweisen, so galt der Grundsatz des in dubio pro reo. Diese Vorgaben bildeten den Hintergrund, vor dem NS-Täter aussagten. Die Feststellung, dass sie Menschen, vor allem Juden getötet hatten, genügte nicht, um sie zu bestrafen. Zunächst musste ihre Stellung, d.h. die individuelle Verantwortung, innerhalb der Struktur des „Organisationsverbrechens“ ermittelt werden. Erst dann ließen sie sich wegen Täterschaft oder Beihilfe überführen und verurteilen.

Fußnote 162: Nach der „objektiven Teilnahmetheorie“ galt derjenige als Täter, der den Tatbestand, z.B. das Abfeuern von tödlichen Schüssen, eigenhändig verwirklicht hatte. Danach wäre es kaum möglich gewesen, die höheren Chargen, wie beispielsweise „Schreibtischtäter“, zu verurteilen.

Auszug aus: Jan Kiepe „Das Reservebataillon 101 vor Gericht“, S. 42-43, LIT-Verlag Hamburg 2007

 [9] Auszug aus: Jan Kiepe „Das Reservebataillon 101 vor Gericht“, S. 129, , LIT-Verlag Hamburg 2007  

[10] Landgericht Hamburg, Lebenslauf des Angeklagten Kurt Dreyer, in: Urteil vom 24. April 1972, 147 Ks 1/67, Staatsarchiv HH, Bd. 003-0063 ff. 213-12.0022

 [11] Landgericht Hamburg, Urteil vom 24. April 1972, 147 Ks 1/67, Staatsarchiv HH, Bd. 003-0063 ff. 213-12.0022

[12] Landgericht Hamburg, Urteil vom 24. April 1972, Seite 2, Bl. 1715, Staatsarchiv HH, Bd. 0003-0063 ff. 213-12.0022

[13] „VII Schlußbetrachtung“ in. Jan Kiepe „Das Reservebataillon 101 vor Gericht“, S. 175 , LIT-Verlag Hamburg 2007  

[14] BROWNING, „Ganz normale Männer“, S. 208 ff., Zitat S. 214

[15] GOLDHAGEN, „Hitlers willige Vollstrecker“, S. 313 ff. Zitat S. 330

[16] Ebd., S. 487 ff.

[17] PAUL, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors, Zitat S. 37

[18] https://www.bpb.de/mediathek/305451/-ueber-taeter-und-holocaustforschung

[19] .“ Christopher R. Browning in: Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, S.82, Rowohlt Verlag mit einem Nachwort von 1998

[20] AGK, NTN 255. Veröffentlicht bei: Madajczyk, Zamojszczyzna II, S.90, abgedruckt in: Nacht über Europa – Die Okkupationspolitik des deutschen Fachismus (1938-1945) S. 274, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1989

[21] Daniel Jonah Goldhagen, Hitler`s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996; Christopher Browning, Ordinary Men, Reserve Police Bataillon 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992 in: Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Docupedia Zeitgeschichte, 18.06.2013, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

[22] Zahlen nach Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Darmstadt 2003 in: Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Docupedia Zeitgeschichte, 18.06.2013, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Seite 3

[23] Jürgen Mathäus u.a. Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt a.M. 2003 in:  Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Seite 6

[24] Karin Orth, Die Konzentrationslager SS, Sozialstrukturelle Analysen und biografische Studien, Göttingen 2000, in:  Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Seite 7

[25] Vgl. Wildt, Generation, S. 209ff in:  Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Seite 7

[26] Vgl. Frank Bajohr, neuere Täterforschung, Seite 7

Veröffentlicht von Rudi Arendt am

Kommentieren Sie den Beitrag

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert **

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Navigiere zu
Themen
  • Arbeitslager
  • Ereignis
  • Jugend
  • Nazi-Organisation
  • Person
  • Verfolgung
  • Widerstand
  • Alle Kategorien aktivieren