„Da haben wir ja hier Glück gehabt“ – Räumungstransport mit Halt in Glückstadt

Route (Abbildung: International Tracing Service, Bad Arolsen,https://digitalcollections.its-arolsen.org/050303/content/pageview/1232859, Document-ID: 84630482)
Bahnhof Glückstadt (Foto: http://marschbahn-glueckstadt.de/die-marschbahn/glueckstadts-eisenbahngeschichte/glueckstaedter-bahnhoefe/)
Wagon (Foto: Julian Muxfeldt)
Ausweis für ehemals politische Gefangene mit dem Bild des Zeugen Jacek Poczman (Sammlung: Mark Poczman)
7. April 1945
Bahnhofstraße 3, Glückstadt

Der Glückstädter Bahnhof liegt mitten im Zentrum der Elbstadt und gehört damit zum festen Bestandteil des Stadtbildes. Doch die wenigsten Betrachter wissen um die Vorfälle, die sich dort zur Endphase des Nationalsozialismus zugetragen haben.

Der unweit von Glückstadt in Westdorf/Dithmarschen geborene SS-Oberscharführer Hermann Kleemann (1915-1977), Sohn eines Reichsbahnangestellten und gelernter Metzger, wurde ab 1941 im Konzentrationslager Auschwitz zunächst im Block 11 dem sogenannten „Todesblock”[1] und später als Lagerführer in den Außenlagern Bismarckhütte und Janinagrube eingesetzt, in der Kohleabbau betrieben wurde. Dort mussten Häftlinge ohne Schutzkleidung und zum Teil bis über den Gürtel im Wasser stehend arbeiten. In Aussagen beschrieb er sich selbst als Wohltäter von Häftlingen, der sie immer anständig behandelt hätte. Er war aber von Häftlingen gefürchtet, diese haben ihn „Revolverking”[2] genannt, da er immer schnell zu diesem gegriffen hat.[3]

Zuletzt war er in einem Außenlager des KZ Mittelbau-Dora in Woffleben als Lagerführer stationiert. Mit dem Vorrücken der Alliierten begann die SS die Lager aufzulösen und die Insassen auf Räumungstransporten mit Zügen und auf so genannten Todesmärschen in andere Lager zu bringen. Kleemann war bei der Evakuierung Wofflebens Tansportführer. Ziel dieses Räumungstransports war das KZ Neuengamme bei Hamburg, dieses verweigerte vermutlich die Aufnahme der größtenteils politischen Häftlinge.[4]

Der Zug startete im Konzentrationslager Woffleben am 05. April 1945. Es wurden 1.643 Häftlinge zu je 120 Personen in einem Viehwaggon gepfercht[5], welcher eine Fläche von 22 m² besaß.
Der Zug fuhr seit dem 05. April 1945, 320 km in nördliche Richtung über die Städte Herzberg, Osterode, Northeim, Hannover, Celle, Lüneburg um dann am 06. April 1945 den Bahnhof von Hamburg-Altona zu erreichen. Am 07. April 1945 wurde dann, vermutlich aus logistischen Gründen, ein Halt in Glückstadt eingelegt.[6] Hier fiel auch das titelgebende Zitat, denn einem Zeugen war lediglich das “Glück-” im Ortsnamen in Erinnerung geblieben, da dieses im starken Kontrast zu seiner Situation stand. So gab Jacek Poczman, ein polnischer politischer Häftling an, damals in Anbetracht des “Glücks-…“ im Ortsnamen zynisch bemerkt zu haben: “Da haben wir ja hier Glück gehabt“.[7] Poczman schilderte auch die  Ereignisse am Glückstädter Bahnhof: „Als ich aus einem Wagenfenster sah konnte ich sehen wie ein Zivilist mit Gewehr, einen Häftling, der anscheinend entflohen war, zurück zum Zug brachte. Kleemann stand vor dem Zug im Gespräch mit einer anderen Transportbegleitung. Der Häftling (…) zitterte an allen Gliedern. Kleemann sagte zu ihm: `Komm, ich werde Dir den guten Weg zeigen.´, nahm ihn und führte ihn um den Zug herum an eine Baumgruppe. Es knallten zwei Schüsse, und ich konnte sehen, wie der Häftling zusammenbrach.”[8] Kleemann befahl daraufhin den Toten bei einer Baumgruppe zu vergraben. Im weiteren Verlauf der Reise wurde ein Halt in Brunsbüttelkoog eingelegt. Dort wurden weitere Häftlinge getötet.  Später, bei einem Halt in Handeloh, wurden mindestens vier weitere Häftlinge getötet.[9] Die Odyssee ging von Handeloh bis ins KZ Bergen-Belsen weiter und endete dort am 10.04.1945.[10] Durch die günstigere Beweislage in Brunsbüttelkoog und in Handeloh vernachlässigte die Staatsanwaltschaft den Vorfall in Glückstadt.[11] Die Identität und der Verbleib des Toten bleibt weiter unklar.

Der Prozess gegen Kleemann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit fand im Jahr 1951 vor dem Landgericht Itzehoe statt.

Der Angeklagte Hermann Kleemann bestritt vor Gericht im allgemeinen verantwortlich für die Zustände im KZ-Woffleben oder dem Räumungstransport vom 5. April 1945 verantwortlich gewesen zu sein. Des Weiteren bestritt er, weder Lagerführer des KZ Woffleben noch des Transports gewesen zu sein. Über sich sagte Kleemann aus, niemanden erschossen oder getötet zu haben, zudem gab er an, dass in seiner Gegenwart niemand erschossen oder getötet worden wäre.[12] 

Das Gericht ließ für die Verhandlung ein Gutachten erstellen mit dem Ziel, Klarheit über die Person Kleemann zu erlangen. Erstellt hatte dies der Kieler Professor Dr. H., welcher laut Gericht zu dem Ergebnis kam, „dass der Angeklagte zwar für seine eigenen Taten voll verantwortlich sei, dass aber doch seine persönlichen Einsicht und Handlungsfähigkeit enge Grenzen gesetzt seien. Gewisse Taten seien ihm in solchem Grade persönlichkeitsfremd, dass derartige Beschuldigungen unglaubwürdig seien.”[13]
Das Gericht folgte dieser Bewertung und erklärte Kleemann für nicht schuldig. Im Namen des Volkes erging schließlich folgendes Urteil: ”Der Angeklagte wird auf Kosten der Landeskasse freigesprochen”[14]

Aus ermittlungstaktischen Erwägungen wurden das geschilderte Ereignis in Glückstadt im Gesamtzusammenhang des Falles Kleemann als zu wenig zielführend für eine Verurteilung eingestuft. Aber er ist aus lokal historischer Perspektive wichtig, denn er macht klar, dass Geschichte uns immer umgibt und manchmal näher ist als man denkt. Die Täter und Opfer waren unter uns, ihre Taten sind es immer noch und werden es bleiben.

 

Autoren: Tim Behrmann, Elias Gaenslen, Tim Laatz, Julian Muxfeldt und Jelle Reinhardt

mit freundlicher Unterstzützung: Geschichtsleher Jens Binckebanck
Detlefsengymnasium Glückstadt

Veröffentlicht von IGG am

Ein Hinweis zu “„Da haben wir ja hier Glück gehabt“ – Räumungstransport mit Halt in Glückstadt”

  1. Poczman sagt:

    I am the son of Jacek Poczman, who is mentioned in the linked article as a witness to the incident mentioned above :https://www.spurensuche-kreis-pinneberg.de/spur/da-haben-wir-ja-hier-glck-gehabt-1-rumungstransport-mit-halt-in-glckstadt/?fbclid=IwAR3klZ_1Uj_SG1Q6pWflEYbMzldmVc6a5IZz8o4xoiN7ceLz5dIoN1DnAC4

    As noted in Herr Binckebanck’s comments to the article, my father emigrated to Australia after the War. After many unsettled years travelling around Australia he married my mother, also from Poland, in Adelaide in 1960. My brother and sister were born in 1962. I was born in 1963. My father died in 1978. I like to think our family and being so far away from Europe gave my father some security and happiness after the awful things he suffered and saw but I also know those events left their physical and mental mark. I remember the look in my father’s eyes when as a small child I touched his camp tattoo and asked what it was.

    I have thought often about my father’s experiences as a young man and how lucky I have been to have had the life he and my mother gave me. As I get older I am more and more interested in finding out more about my father and his experiences in World War 2, partly so my daughter knows her family history when she is old enough to know about these things. She is only 9 now. Do you have any further information about my father you can share? In particular are you able to share my father’s statement to the public prosecutor? I also have information and documents about my father I have uncovered which may be of interest – see the attached for example.

    I look forward to hearing from you and perhaps even visiting your townto see the memorial plaque. As it happens I have close family in Berlin and Hamburg.

    Warmest regards,

    Mark Poczman

  2. Poczman sagt:

    Dear Herr Binckebanck,

    I am a son of Jacek Poczman and from my home near Adelaide in Australia read this article with interest (and sadness). Thanks to you and your students for your efforts in making sure this incident is not forgotten. I will email you separately as I would be interested in any further information you could give me about my father.
    Kind regards,
    Mark Poczman

  3. Jens sagt:

    Moin moin,
    weiß jemand ob später einmal nach dem Leichnam des durch Kleemann erschossenem Gefangenen gesucht wurde? Konnte er identifiziert werden?
    Gibt es Erkenntnisse wo er erschossen wurde?
    Hierüber habe ich nichts gefunden.
    Mfg Jens

    1. Jens Binckebanck sagt:

      Sehr geehrter Herr Gruenert,
      Herr Plata, den ich in CC gesetzt habe und hiermit gegrüßt ist, hat mir freundlicherweise Ihre Nachfrage zu dem Mord am Glückstädter Bahnhof geschickt. Ich, als verantwortlicher Lehrer des SchülerInnenporjektes freue mich sehr über Ihr Interesse und gehe selbstverständlich auf Ihre Fragen ein.
      Nach dem Leichnam wurde meines Wissens niemals gesucht, er wurde nicht identifiziert und auch über den Ort der Erschießung können nur plausible Mutmaßungen angestellt werden. Dass wir darüber nichts wissen, liegt u.a. daran, dass sich die Staatsanwaltschaft in der Vorbereitung des Prozesses gegen Kleemann im Jahr 1951 auf Tötungen und Ereignisse in Brunsbüttel konzentrierte, da sie hier vermutete, dass die Erfolgsaussichten für eine Verurteilung hier höher gewesen seien. Erschwerend für die Staatsanwaltschaft kam hinzu, dass Jacek Poczman, der Zeuge für die Ermordung in Glückstadt mittlerweile nach Australien ausgewandert war und Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre noch nicht üblich war in NS-Verfahren über Botschaften Zeugen zu vernehmen. Daher wurde die Ereignisse in Glückstadt niemals publik, sondern liegen „nur“ als Zeugenaussage in den staatsanwaltichen Ermittlungsakten vor. Und mit dem Ende des Verfahrens und dem skandalösen Freispruch Kleemanns wurde die Akte geschlossen und somit verschwand auch die Aussage für Jahrzehnte in die Archive und mit den Akten verschwand die Erinnerung an den Mord in Glückstadt.
      Ich hoffe, ich konnte Ihre Fragen beantworten und stehe Ihnen gerne für eventuelle weitere Fragen zur Verfügung.
      Viele Grüße
      Jens Binckebanck

  4. Peter Witt sagt:

    Ich bin 1938 in Glückstadt geboren.Mein Vater W.W, ebenfals dort geboren war bei der SS feldgendamerie . Stationiert in der Ukraine und dort 1944 gefallen, Übrigens soll mein Großvater Baumeister Friedrich Witt
    den Bahnhof in den dreißiger Jahren gebaut haben. Das genaue Datum ist mir nicht bekannt. Eventuell
    könnte man daraufhin noch Nachforschungen anstellen,

  5. Julis Estemann sagt:

    Ihr habt hier echt einen sehr großen Aufwand betrieben, wäre es von euer Seite aus Okay, wenn wir den Artikel, für unsere Website, „Die Freunde der Marschbahn“ benutzen?
    Bei Fragen bitte an meine E-Mail Adresse

    1. Rudi Arendt sagt:

      Hallo Julis Estemann. Vielen Dank für das Interesse an dem Beitrag. Ihr könnt die Spur als Beitrag verwenden. Am besten mit einem Hinweis auf unsere Website.

  6. Christian Neuenfelder sagt:

    Ich finde das richtig krass, was ihr da geleistet habt. Ich selbst wohne auch in Glückstadt und habe das auch nicht gewusst. Evtl. sollte man mal an die Stadt heran treten und fragen ob es möglich ist eine Art Tafel anzubringen.

  7. Finn Kaufmann sagt:

    Ich wohne in Glückstadt und hab das nicht gewusst. danke für euren Einsatz

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