1. April 1933
Flamweg/Marktstrasse, Elmshorn
Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 kam es überall im Reich zu „spontanen Aktionen“ gegen jüdische Geschäftsinhaber, Rechtsanwälte, Richter, Ärzte und Privatpersonen. Die nationalsozialistischen Übergriffe blieben der Weltöffentlichkeit nicht verborgen und es kam zu Kundgebungen gegen das Naziregime. Die USA, England, Frankreich, Belgien, Holland, Polen und verschiedene andere Länder leiteten Boykottmaßnahmen gegen deutsche Waren ein. Dieses wiederum nahmen die Nationalsozialisten zum Anlass, einen gesteuerten Boykott gegen jüdische Geschäfte, Anwälte, Mediziner und Privatpersonen vorzubereiten.
Seit dem 29. März beherrschte der bevorstehende Boykott der jüdischen Geschäfte und Ärzte die Schlagzeilen auf den Titelseiten der Tageszeitungen. Am 29. März veröffentlichten die „Elmshorner Nachrichten“ auf ihrer Titelseite die „Richtlinien für die Abwehraktion“:
„ München, den 28. März. Die Nationalsozialistische Korrespondenz veröffentlicht außer dem Aufruf zur Abwehr der Greuelpropaganda und des Boykotts im Ausland elf Programmpunkte, durch die die Gegenwirkung innerhalb Deutschlands organisiert werden soll:
- In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte.
- Die Aktionskomitees sind verantwortlich für den höchsten Schutz aller Ausländer ohne Ansehen ihrer Konfession, ihrer Herkunft oder Rasse. Der Boykott ist reine Abwehrmaßnahme, die sich ausschließlich gegen das deutsche Judentum wendet.
- Die Aktionskomitees haben sofort durch Propaganda und Aufklärung den Boykott zu popularisieren. Grundsatz: Kein Deutscher kauft noch bei einem Juden, oder läßt sich von ihm und seinen Hintermännern Waren anpreisen. Der Boykott muß ein allgemeiner sein.
- In Zweifelsfällen soll von einer Boykottierung solcher Geschäfte abgesehen werden, bis vom Zentralkomittee in München eine andere bestimmte Anweisung erfolgt. Vorsitzender des Zentralkomitees ist Parteigenosse Streicher.
- Die Aktionskomitees überwachen auf das schärfste die Zeitungen, inwieweit sie sich an dem Aufklärungsfeldzug des deutschen Volkes gegen die jüdische Greuelhetze im Ausland beteiligen. Tun Zeitungen dies nicht, so ist darauf zu sehen, daß sie aus jedem Hause sofort entfernt werden. Kein deutscher Mann und kein deutsches Geschäft soll in solchen Zeitungen noch Annoncen aufgeben. Sie müssen der öffentlichen Verachtung verfallen, geschrieben für die jüdischen Rassegenossen, aber nicht für das deutsche Volk.
- Die Aktionskomitees müssen in Verbindung mit den Betriebszellenorganisationen der Partei die Propaganda der Aufklärung über die Folgen der jüdischen Greuelhetze für die deutsche Arbeit und damit für den deutschen Arbeiter in die Betriebe hineintragen.
- Die Aktionskomitees müssen bis in das kleinste Bauerndorf hinein vorgetrieben werden.
- Der Boykott setzt nicht verzettelt ein, sondern schlagartig. In dem Sinne sind augenblicklich alle Vorarbeiten zu treffen. Der Boykottbeginn ist durch Plakatanschlag und durch die Presse, durch Flugblätter usw. bekanntzugeben. Der Boykott setzt schlagartig am Sonnabend, dem 1.April, Punkt 10 Uhr vormittags, ein. Er wird fortgeführt so lange, bis eine Anordnung der Parteileitung die Aufhebung befiehlt.
- Die Aktionskomitees propagieren sofort in Zehntausenden von Massenversammlungen, die bis in das kleinste Dorf hineinzureichen haben, die Forderung nach Einführung einer relativen Zahl für die Beschäftigung der Juden in allen Berufen, entsprechend ihrer Beteiligung an der deutschen Volkszahl. Um die Stoßkraft der Aktion zu erhöhen, ist diese Forderung zunächst auf drei Gebiete zu beschränken:
- auf den Besuch an den deutschen Mittel- und Hochschulen;
- für den Beruf der Ärzte;
- für den Beruf der Rechtsanwälte.
- Die Aktionskomitees haben weiterhin die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß jeder Deutsche, der irgend eine Verbindung zum Ausland besitzt, diese verwendet, um aufklärend die Wahrheit zu verbreiten, daß in Deutschland Ruhe und Ordnung herrscht.
- Die Aktionskomitees sind dafür verantwortlich, daß sich dieser gesamte Kampf in vollster Ruhe und größter Disziplin vollzieht. Krümmt auch weiterhin keinem Juden auch nur ein Haar! Wir werden mit dieser Hetze fertig, einfach durch die einschneidende Wucht dieser Maßnahmen.“
- Nähere Anweisungen gab Streicher am 31. März: „ Aufruf des Abwehr-Komitees der NSDAP“ (…) (1)
- Die Aktionskomitees (deren Mitglieder keinerlei Bindung mit Juden haben dürfen) stellen sofort fest, welche Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien usw. sich in Judenhänden befinden.
- Es handelt sich bei dieser Feststellung selbst verständlich um Geschäfte, die sich in den Händen von Angehörigen der jüdischen Rasse befinden. Die Religion spielt keine Rolle. Katholisch oder protestantisch getaufte Geschäftsleute oder Dissidenten jüdischer Rasse sind im Sinne dieser Anordnung ebenfalls Juden. (…)
- Ist der Ehegatte einer nichtjüdischen Geschäftsinhaberin Jude, so gilt das Geschäft als jüdisch. Das gleiche ist der Fall, wenn die Inhaberin Jüdin, der Ehemann dagegen Nichtjude ist. (…)
- Die Aktionskomitees übergeben das Verzeichnis der festgestellten jüdischen Geschäfte der SA und SS, damit diese am Sonnabend, dem 1. April 1933, vormittags Punkt 10 Uhr, die Wachen abstellen können.
- Die Wachen haben die Aufgabe, dem Publikum bekannt zu geben, daß das von ihnen überwachte Geschäft jüdisch ist. Sie haben vor dem Einkauf in diesem Geschäft zu warnen. Tätlich vorzugehen ist ihnen verboten. Verboten ist auch, die Geschäfte zu schließen, die Fensterscheiben zu zertrümmern oder sonstigen Sachschaden anzurichten.
- Zur Kenntlichmachung jüdischer Geschäfte sind an deren Eingangstüren Plakate oder Tafeln mit gelbem Fleck auf schwarzem Grunde anzubringen. (…)
- Die Aktionskomitees veranstalten am Freitag, dem 31. März 1933 abends, in allen Orten im Einvernehmen mit den politischen Leitungen große Massenkundgebungen und Demonstrationszüge. Dabei sind Transparente zu tragen mit folgender Aufschrift:
- „Zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykott hetze.“
- „Boykottiert ab morgen, vormittags 10 Uhr, alle jüdischen Geschäfte.“ In Großstädten sind die Kundgebungen auf möglichst vielen öff entlichen Plätzen abzuhalten.
- Am Samstag vormittag sind bis spätestens 10 Uhr die Plakate mit dem Boykottaufruf an allen Anschlagstellen in Städten und Dörfern anzubringen. Zu gleicher Zeit sind an Lastautos oder noch besser an Möbelwagen folgende Transparente in hier angegebener Reihenfolge durch die Straßen zu fahren:„ Zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze.“,
„ Boykottiert alle jüdischen Geschäfte“,
„ Kauft nicht in jüdischen Warenhäusern“,
„ Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten“,
„ Meidet jüdische Ärzte“,
„ Die Juden sind unser Unglück“. (…)“ (2)In Elmshorn wurde für den 1. April die Polizei durch 20 „Hilfspolizisten“ verstärkt, die in der Fabrik von H. Schwarz in der Catharinenstraße kaserniert wurden.(3) Die neuen Kräfte wurden ausschließlich aus der SS und SA rekrutiert. Jeder Widerstand gegen diese SA- und SS-Angehörigen konnte fortan als Widerstand gegen die Staatsgewalt ausgelegt werden.
Wie verlief nun der Boykott in Elmshorn?
Die „Elmshorner Nachrichten berichteten darüber am 1.April:
„Der Abwehrkampf gegen die Greuelhetze in Elmshorn“ „Keinen Pfennig für die Juden!“ Unter dieser Parole wird der Abwehrkampf gegen die Greuelpropaganda der Juden im Ausland hier in Elmshorn geführt. Schon von 8 Uhr an sah man Streifen der SA und SS in der Stadt. Um 10 Uhr standen die Posten der SS vor den jüdischen Geschäften. An den Schaufenstern prangten gelbe Zettel mit der Aufschrift „Jude“. In Elmshorn wurden folgende Geschäfte von dem Boykott betroffen: „Produktion“ mit ihren sämtlichen Geschäftsstellen; Irma Rosenberg, Königstraße; Max Meyer, Schulstraße und die „Epa“. Die „Epa“ hielt ihre Räume heute geschlossen. Das eiserne Gitter zeigte schon jedem, der hier Einkäufe machen wollte, daß der Gang vergeblich gewesen war. Vor der „Epa“ hatte sich gegen 10 Uhr eine große Menschenmenge versammelt, die sich aber ruhig verhielt. Durch die Ansammlung wurde der Verkehr an dieser sehr belebten Straßenkreuzung stark behindert.
Der Überfallwagen war sofort zur Stelle. Polizeibeamte und Hilfspolizei zerstreuten die Menge schnell. Die Leitung der Säuberungsaktion hatte der kommissarische Bürgermeister, Herr Rechtsanwalt Spieler. Er setzte in der Marktstraße Streifen der Hilfspolizei ein, die die Menge in Bewegung hielt. Dann fuhr er mit dem Überfallwagen nach anderen Plätzen, wo jüdische Geschäfte waren, und sah nach dem Rechten. Auch das Abwehr-Komitee gegen jüdische Greuel- und Boykotthetze unter der Führung des SS-Führers Herrn W. Grezesch, fuhr zur Kontrolle mit einem Auto die Straßen ab. Zur Aufklärung der Bevölkerung wurden Flugblätter mit verschiedenem Inhalt verteilt. Die Firmen Max Meyer und Irma Rosenberg haben heute ihr Geschäft freiwillig geschlossen. Die Posten der SA wurden daher eingezogen. Auch bei der „Produktion“ wurden die Posten zurückgezogen, da nach neueren Meldungen kein jüdisches Kapital in diesem Betriebe investiert ist.
Verhaftet wurden heute morgen von Hilfspolizisten zwei Personen. Ein Mann hatte einen SA-Mann, der Posten stand, belästigt. Er wurde kurzerhand festgenommen. Ein anderer Mann hatte versucht, ein Judenplakat abzureißen. Auch er kam in Staatspension“.(4) Die jüdischen Geschäftsinhaber haben reagiert und ihre Geschäfte geschlossen. Diesem Umstand war es vermutlich zu verdanken, daß es zu keinen größeren Ausschreitungen kam. Mißhandlungen oder Hausdurchsuchungen wie in anderen Städten sind in Elmshorn nicht bekannt geworden. Die Fabriken wurden nicht boykottiert. Lediglich vor der Gerberei von Paul Heymann, Kaltenweide, soll es zu einem Zwischenfall gekommen sein. Vor der Gerberei hatte sich eine Gruppe von Parteiangehörigen versammelt und ein Schild mit der Aufschrift: „Dies ist ein jüdisches Unternehmen“ aufgestellt.
Daraufhin kam Paul Heymann in Uniform, mit seinem im I. Weltkrieg erworbenen Eisernen Kreuz I. Klasse auf der Brust, heraus und stellte sich demonstrativ vor das Haus. Dieses war den Nationalsozialisten doch zu peinlich, denn sie zogen mit ihrem Schild wieder ab. Die Bevölkerung verhielt sich zum größten Teil passiv.(5)
(1) Elmshorner Nachrichten vom 29.3.1933, zit. nach Kirschninck, Harald: Die Geschichte der Juden in Elmshorn 1918-1945. Bd.2. S. 42ff
(2) Vossische Zeitung v. 31.3.1933, zit. n. :Comité des Délégations Juives: Die Lage der Juden in Deutschland 1933. Das Schwarzvuch/Tatsachen und Dokumente. S.302ff.
(3) Elmshorner Nachrichten v. 1.4.1933
(4) ebenda
(5) Kirschninck, Harald: Die Geschichte der Juden in Elmshorn 1918-1945. Bd.2. S. 48
Autor: Harald Kirschninck
Literatur:
Kirschninck, Harald: Die Geschichte der Juden in Elmshorn. 1685-1918. Band 1. Norderstedt 2005.
Kirschninck, Harald: Die Geschichte der Juden in Elmshorn. 1918-1945. Band 2. Norderstedt 2005.
Kirschninck, Harald: Juden in Elmshorn. Teil 1. Diskriminierung.Verfolgung. Vernichtung. in: Stadt Elmshorn (Hrsg.):
Beiträge zur Elmshorner Geschichte. Band 9. Elmshorn 1996.
Kirschninck, Harald: Juden in Elmshorn. Teil 2. Isolierung. Assimilierung. Emanzipation. in: Stadt Elmshorn (Hrsg.):
Beiträge zur Elmshorner Geschichte. Band 12. Elmshorn 1999.
Eine traurige, empörende Geschichte. Leider war mein verstorbener Großvater Wilhelm Kuhnke als Parteimitglied in der Ortsgruppe Elmshorn wohl involviert.
Ich habe allerdings keine weiteren Informationen darüber.