Die Gefangenen im Himmelmoor – Erinnerungen von Hiltgunt Zassenhaus

Veröffentlicht von Jörg Penning am

Umschlag Zassenhaus

In ihrem 1947 erschienenen Buch „Halt Wacht im Dunkeln“ verarbeitete Hiltgunt Zassenhaus literarisch ihre Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus.[1] Sie wurde im Jahr 1916 in Hamburg geboren und beendete 1938 ihr Studium als Diplom-Übersetzerin für skandinavische Sprachen. In ihrer Funktion als Dometscherin wurde sie im Zweiten Weltkrieg von der Justizverwaltung Hamburg eingesetzt, um den Schriftverkehr der Gefangenen zu zensieren und Übersetzungsarbeiten zu leisten. Hierzu suchte sie die verschiedenen Haftstätten der skandinavischen Gefangenen auf, darunter auch zusammen mit einem norwegischen Pastor die Außenstrafanstalt im Himmelmoor. Sie nutzte die Tätigkeit als Dolmetscherin insgeheim, um die Gefangenen zu unterstützen. In ihrem Buch hielt Hiltgunt Zassenhaus auf den Seiten 154 bis 159 über ihre Erinnerungen an die Reise nach Quickborn und den Besuch der Gefangenen folgendes fest:

Wir gehen über ausgefahrene Wege. Der Lehm klebt an den Schuhen. Die Erde ist braun. Es rinnt vom Himmel. In diesem Jahr wird es sehr früh Herbst; auf den tiefliegenden Wiesen dampft nasser Nebel. Über den Wolken surrt es. Die Sirene hat getutet, als unser Zug auf der kleinen Station angekommen ist.

‚Wie weit ist es noch?‘ frage ich den Pfarrer. Wir tragen schwere Mappen.

An eine Kreuzung steht endlich ein Wegweiser, ein gelbes Schild mit schwarze Beschriftung: Nach Himmelmoor.

Überall im Land ist braune Erde – nicht nur auf Schülp! Auch das Zuchthaus Rendsburg hat ein Außenkommando im Moor.

Die Spur des Wagens verwischt sich. Wir kommen an eine Schiene. Da steht die letzte Kate der Ortschaft. Hinter dem Fenster sitzt ein Mann und raucht die Pfeife.

‚Wie weit ist es noch bis Himmelmoor?‘ Er kommt näher an die Scheibe heran und faßt langsam nach dem Griff. Nur widerwillig öffnet er auf einen Spalt. ‚Nach Himmelmoor?‘ kommt es gedehnt durch das Fenster. ‚Das ist noch weit, und dann – bei dem Wetter!‘

Wir gehen über die Schiene. Zu beiden Seiten klumpt sich der feuchte braune Lehm. Ich bleibe stehen. Immer ist etwas mit meinen Schuhen. Das schwarze Paar muß besohlt werden, darum trage ich heute die braunen. Aber darin sind die Nägel zu tief geschlagen. Ich setze die Tasche nieder.

Der Pfarrer dreht sich um. ‚Wieder Nägel?‘

Ein Stein wird gesucht. Das Hämmern auf der Schuhsohle klingt hohl durch die Stille des Sonntagmittags. Träge kommt der Regen vom Himmel, die unersättliche braune Erde saugt die Fäden begierig auf.

Wir gehen von der Schiene herunter, denn mir wird schwindlig, wenn ich von einer Bohle zur anderen trete – immer in deselben Richtung- ohne Ziel, oder doch nur in der Vorstellung: irgendwo müssen ja Schienen und braune Erde zu Ende sein.

Im Morast haben sich große Larchen gebildet. Wir springen von einer zur anderen. In den Gräben sammelt sich Wasser. Das Grau des Himmels, das feuchte Grün der Wiesen und der braune Morast, in die die Schienen nur gelegt zu sein scheinen, um uns noch tiefer hineinzulocken, nehmen mir den Atem. Wieder fühle ich, daß in der Luft ein Geruch vom Sterben ist. Nicht der Leichengeruch einer brennenden Stadt – mehr ein qualvolles Warten, ein langsames Dahinsiechen.

Aber was sehe ich nur in die Natur hinein! So tief hing der Himmel schon über dem braunen Morast, als ich noch nicht einmal atmete.

Und doch ist es so – in der Luft ist Warten, Beklommenheit, Sterben. Von der Ferne her dringt ein klägliches Blöken, der gepreßte Jammer eines Wesens, das die Sprache verloren hat.

Ich atme auf. ‚Endlich etwas Lebendiges!‘ Im matten Licht dieses grauen Tages sind auf der Weide die Umrisse einiger Schafe und Lämmer zu erkennen.

Wir stapfen und springen weiter. Es trieft an der Tasche heunter; das Brot darin ist gut und trocken.

Endlich biegt von der Schiene ein Feldweg ab. Im morastigen Grund sind viele große Fußstapfen; der Umriß von Hacken ist nicht zu erkennen. ‚Holzpantinen‘, sagt der Pfarer. Wir gehen den Spuren nach. Der Weg führt über eine feuchte Weide, da verliert sich die Spur. Doch hinter einem Knick fängt sie wieder an, und als der Weg noch einmal eine Biegung gemacht hat, stehen wir am Rande eine spärlichen Reihe von Tannen. Dahinter blinkt es auf – leuchtendweiß.

‚Wir haben uns velaufen!‘

‚Altes Fachwerk‘, ruft der Pfarrer. ‚Lassen Sie uns sehen.‘

In etwa fünfzig Meter Abstand voneinander liegen zwei Bauernhöfe. Alt müssen sie sein, und doch sind sie wohlerhalten. Durch die frisch weißgekalkte Wand zieht sich braunes Fachwerk. Das Strohdach liegt tief darüber. Unter dem Giebel entdecken wir eingeschnitzt in das Fachwerk eine Jaheszahl. Wir können sie kaum entziffern im rinnenden Regen. Erst als wir die Hände rund machen und wie ein Fernohr vor das Auge halten, lesen wir: Anno 1815.

‚Freiheitskriege!‘ sage ich zum Pfarrer.

‚Sehen Sie die Sonnenuhr darunter!‘ Der Pfarrer zeigt auf einen etwas verwitterten Kreis, der, aus Holzbälckchen bestehend, in die weißgekalkte Wand eingelassen worden ist. In einem breiten Querbalken ist eingeschnitzt: „Mach es wie diese Sonnenuhr! Zähl die heiteren Stunden nur!‘

‚Heitere Stunden zählen im toten Moor‘, meint der Pfarrer. ‚Wieviele mögen es gewesen sein seit 1815?‘

‚Niemand zählt sie mehr. Die Bauernhäuser sind unbewohnt. Aber sicherlich stehen sie wegen des alten Fachwerks und des schönen Spruchs unter Denkmalschutz.‘

Wir treten noch näher hinzu. Fast haben wir beide vergessen, warum wir ins Moor gegangen sind. – Aber da fahre ich zurück: ‚Sehen Sie nur!‘ –

Hinter den Fenstern sind Gitter. Statt nach außen hat man sie nach innen gebaut. Ein Strafgefangenenkommando in diesem alten, schönen Bauernhof? Ungläubig schüttelt der Pfarrer den Kopf. Wir gehen auf die behäbig einladende Tür zu. Wir suchen den Klingelzug; vergeblich!

‚Also doch unbewohnt!‘ Wir drücken die Klinke herunter, aber die Tür ist verschlossen. Nun trommeln wir mit den Fäusten, dumpf schallt es aus dem Innern zurück. Die Diele hinter der Tür muß groß und leer sein.

Da gehen wir um den Bauernhof herum. Wir drücken Klinken herunter, aber keine gibt nach. Die Stallungen sind geräumig gebaut, das Dach liegt höher als im Wohnhaus. Wir stemmen uns gegen das eiserne Tor. Es ist verschlossen, aber aus dem Innern kommt eine Stimme in gebrochenem Deutsch: ‚Wollt ihr zu uns?‘

‚Wir sind es, Kameraden‘, antwortet der Pfarrer auf norwegisch.

‚Vorne schlafen sie zu Mittag. Ihr müßt rufen‘, klingt es zurück, hohl, als komme die Antwort aus dem Grab.

Wir rufen. Wir drücken das Gesicht gegen die Scheiben des Wohnhauses. Nichts regt sich. Die großen Stuben im Erdgeschoß stehen leer. Wir fangen an,  Steine gegen die Fenster des ausgebauten Giebels zu werfen. Da endlich nähern sich schlurfende Schritte. ‚Wer da?‘ ruft eine mißmutige Stimme.

Die Tür öffnet sich, der Grüne ist verwirrt. Den Pfarrer beachtet er nicht, der ist Norweger. Aber ich, die Deutsche, bin von der Polizei! Wenn ich nun dem Chef der Rendsburger Anstalt berichte, daß er schläft, statt zu wachen?

‚Ich war oben bei den Büchern‘, stottert er dienstbeflissen. ‚In dies gottverdammte Nest kommt sonst nur einmal im Monat der Chef.‘

Er reißt die Tür zum Wohnzimmer auf. Darin ist Platz für viele, aber es ist leer. Stimme und Schritte hallen über den Boden. Nur ein gewaltiger, dunkelgrüner Kachelofen steht in der Mitte der Stube; früher haben sich im Winter die Kinder darum gehockt, und die Alten haben ihnen in der Dämmerung Märchen erzählt.

Plötzlich weiß ich, warum keine Kinderfüße mehr über die Diele trappeln, warum die Wohnstube im Fachwerkhaus leerstehen, warum Stimme und Schritte hallen – neben dem Kamin ist mit Heftzwecken eine Postkarte an die Wand gepinnt: das Bild eines Mannes mit aufgeschlagenem Mantelkragen, die Arme verschränkt. Starre Augen blicken mich an – -.

Ich drehe mich um zu dem Grünen. ‚Führen Sie uns zu den Gefangenen!“

Der Steinboden ist feucht im Stall. Es ist ein einziger, großer Raum, darüber der Dachfirst. Grobbehauene Holzpfeiler führen hinauf und stützen das Dach ab. In der Mitte des Stalles hängt an einer langen Schnur eine kleine Glühbirne. Durch die vergitterten, schmutzigen Scheiben dringt das trübe Licht eines Regentages herein. Wie verloren in der Weite des Raumes treten zerlumpte Gestalten aus dem Dunkel des Stalles näher herzu. Es mögen zwanzig sein.

‚Lassen Sie uns allein!‘

Der Grüne zieht sich eilfertig zurück. ‚Ich muß Sie mit einschließen. Klopfen Sie gegen die Tür, wenn Sie wieder rauswollen.‘ Der Hebel rasselt herunter. Noch stehen die Gefangenen unbeweglich im schwachen Schein der Birne, als ob unser Kommen etwas Unwirkliches wäre, das wieder vergeht, wenn eine Stimme die Stille durchbricht.

‚Es ist Sonntag‘, sagt der Pfarrer. Da strecken sich uns die Hände entgegen. Das Licht erreicht noch gerade einige Holzbänke. Ein Brett und vier Stöcker – das ist der Tisch. Im Halbdunkel stehen Pritschen übereinander getürmt. Von den Pfosten bis zu den Holzpfeilern sind zusammengeknotete Papierbindfäden gespannt. Einiges Zeug hängt darüber. Tropf – tropf – es rinnt auf den Steinboden.

‚Es ist Sonntag‘, sagt Rolf. ‚Da haben wir Wäsche.‘

Dann krempelt er sich die Jackenärmel herunter: ‚Heute ist Feiertag. Ihr seid gekommen!‘ Er sieht dabei auch mich an. Der Tag liegt sehr, sehr weit zurück, als er zum erstenmal im Besuchzimmer saß und ich sein Gesicht nur im Profil sah. Es war ein hartes Profil. Heute gibt er mir die Hand und sagt: ‚Dank für den letzten Brief.‘ Der Brief war von seiner Mutter, und ich habe nichts anderes getan, als ihn gelesen, abgestempelt und weitergeschickt.

Sonntag! Sechs Tage haben sie im Graben gestanden und Torf gestochen, geschichtet und verladen. Den siebenten Tag verbringen sie eingeschlossen in einem Stall. Zwanzig Mann – zusammengewürfelt aus fünf Nationen. Die geräumige Stube im Haus steht leer. Dort hängt nur ein Bild an der Wand. Verschränkte Arme – ein starrer Blick.

Es ist still. Sie sitzen und warten. Kaum wird es am Tage hell, nur die Birne gibt etwas Licht. Wozu auch? Es gibt keine Bücher hier draußen. Nur manchmal einen Brief – und den kennen sie auswendig – Zeile für Zeile. Sie waschen die Wäsche in der zinnernen Kumme. Sie liegen auf der Pritsche und starren in den Dachfirst. Die Stunden schleichen und rennen zugleich. Sonntag!

Sie sitzen im Stall auf der Holzbank und löffeln die Steckrübensuppe. Sonntag! Nach dem Essen wird die Tür noch einmal aufgeschlossen. Der Grüne reicht ein Messer herein. Dann wird es wieder still. Einer nach dem anderen nimmt am äußeren Ende der Holzbank unter der Birne Platz. Das Messer barbiert ihn. Wäsche, Essen, Barbieren – für die Gefangenen ist gesorgt. Die Stimmen sind gedämpft, wenn sie miteinander sprechen. Der Klang verliert sich in dem weiten dunklen Raum, wo nur die Pritsche wie eine Insel steht, auf der es Vergessen gibt.

Die Augen in der Wohnstube starren auch des Nachts, wenn im Stall die Birne verlöscht ist – – -.

‚Jetzt sehen Sie ebenso ernst aus wie ich damals, als Sie zum erstenmal zu uns gekommen sind“, sagt eine Stimme neben mir. Es ist Rolf. Wir sitzen um den Tisch herum, an dem einen Ende der Pfarrer und an dem anderen ich. Wir sprechen mit den Gefangenen. Manchmal klingt ein Lachen auf, doch es verhallt gespenstisch in der Weite des Stalles. Es wird Sonntag. Priem und Brot wandern von Hand zu Hand.

‚Warum ich eben so ernst war?‘ wende ich mich an Rolf. ‚Sicher aus einem anderen Grund als Sie damals -.‘ Er sieht mich gespannt an, und ich fahre fort: ‚Mir fiel ein Traum ein, den ich einmal gehabt habe. Darin hatte mich ein Kind gefragt: Kannst du dich denn gar nicht mehr freuen? – Ich sann nach und fand vieles, über das ich mich freuen konnte. Ihr dagegen – – -.‘

Doch ich kann nicht zu Ende sprechen. Rolf wird lebhaft. ‚Auch wir haben es noch nicht verlernt, uns zu freuen. Wenn Briefe kommen, wenn wir Briefe schreiben und – wenn Besuch kommt. Und warten wir auch an vielen Sonntagen vergebens, so haben wir doch die Hoffnung: vielleicht das nächstemal. Aber -‚ Die Stimme senkt sich zum Flüstern. ‚Haben Sie den anderen Bauernhof gesehen?‘

Das alte Fachwerkhaus, das so aussieht wie dieses?‘

‚Ja, von außen gleicht es unserem, aber drinnen – – -.‘

‚Wer?‘-

„Nacht und Nebel“ Und fast unhörbar spricht Rolf weiter – – -.

 

Der Zug rollt zurück durch die dunkle Nacht. Wir haben einen Platz am Fenster bekommen. Das Abteil füllt sich immer mehr, die Menschen schlafen im Stehen. Es hat aufgehört zu regnen. Der Wind fetzt die Wolken auseinander, daß der Mond hervorsieht. Er wirft fahles Licht über die nächtliche Landschaft. Hinter Weiden und Knicks und spärlichen Tannenreihen liegen stille Bauernhöfe verborgen. Altes Fachwerk und eine Sonnenuhr, drinnen aber ein starrer Blick – – -.

Zwei Bauernhöfe. In dem einen ein Strafgefangenenkommando. In dem anderen französische Juden, die die Gestapo als N.-N.-Gefangene verborgen hält. Sorgfältig hat sie die französischen Kriegsgefangenenlager nach Juden durchsucht und bringt sie in „Nacht und Nebel“, abgesondert von den anderen Kriegsgefangenen.[2] ‚Seit wann sind sie hier?‘ habe ich Rolf gefragt.

‚Seit 1940.‘

Ihre Familien sind verschleppt nach Osten. Wer wird noch von ihnen am Leben sein? Wen werden sie einst wiederfinden? Werden sie selbst überhaupt jemals die Heimat wiedersehen? Warum hält die Gestapo sie als N.-N.-Gefangene verborgen? Warum geht sie nicht mit ihnen in der gleichen Weise vor wie mit anderen Juden?

Unergründlich ist die Gestapo, aber selbst ihre Unergründlichkeit hat System.

Drittes Reich – Nacht und Nebel. Starre Augen – die Wohnstube steht leer.

Der Wind peitscht die Wolken über den Mond; es wird dunkel. Wir nähern uns der Stadt. Scheinwerfer beginnen sich milchig über die Wolkendecke zu legen. Die Räder rumpeln und ächzen. Neben mir weint ein Kind: ‚Mutter, ich habe Angst. Wann sind wir zu Hause?‘