9.11.2023 – Gedenken an das Novemberpogrom in Elmshorn: Klares Zeichen gegen jede Form von Ausgrenzung, Rassismus und Antisemitismus

Gut 100 Menschen erinnerten am 85. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938  in Elmshorn am Gedenkstein der damals niedergebrannten Synagoge im Flamweg an dieses Verbrechen.

Gedenkplatz für die Synagoge. „Es ist fast so wie in vielen Jahren zuvor. Doch manches ist anders.“

Bürgervorsteher: Vernichtung der jüdischen Gemeinde – Teil der Elmshorner Geschichte der niemals verdrängt und vergessen werden darf

Bürgervorsteher Andreas Hahn betonte die gemeinsame historische Verantwortung und wie wichtig das Erinnern für die Zukunft von Bedeutung ist. Er fragte: „Warum halten wir uns dennoch so oft zurück, bewusst für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger einzutreten?“ Er verurteilte auf das Schärfste die jüngsten judenfeindliche Ausschreitungen, die Hetze und Übergriffe in Deutschland.

Im Vorwege der Gedenkveranstaltung hatte sich Andreas Hahn intensiv mit den damaligen Vorgängen des Niederbrennen und Zerstören der Synagoge anhand der Beiträge zur Elmshorner Geschichte von Harald Kirschninck auseinandergesetzt und schilderte kenntnisreich, auch durch Nachfragen bei ihm bekannten Zeitzeugen, die Ereignisse. Er schlug vor, diese Beiträge zur Pflichtlektüre an Elmshorns Schulen zu machen.

Der Bürgervorsteher regte ebenso an, die Aktion Stolpersteine in Elmshorn weiterzuführen und die bisher gelegten Messingtafeln zu pflegen. Die Arbeitsgemeinschaft gegen das Vergessen – Stolpersteine für Elmshorn, die mit vielen Paten diese Kunstaktion in den Jahren 2007 bis 2012 durchführte, wird diese Anregung aufgreifen. Denn mit der neuen App „Stolpersteine für SH“ vom Landesbeauftragten für politische Bildung gibt es jetzt die Möglichkeit, durch das Aufsuchen der Gedenkorte seine persönliche Anteilnahme auszudrücken.

 

Die Beiträge zur Elmshorner Geschichte von Harald Kirschninck

Im bereits 1996 herausgegebenen Teil I zur Geschichte der Juden in Elmshorn schreibt der Autor in seinem Vorwort: „In der Zeit des Nationalsozialismus wurde eine jüdische Gemeinde zerstört, die in ihrer fast 260jährigen Geschichte sehr viel Einfluß auf die Elmshorner Ortsgeschichte genommen hat und deren Mitglieder einmal acht Prozent der Bürger dieses Ortes stellten. Die jüdische Gemeinde war in der Zeit ihres Bestehens nach den evangelischen Christen die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Elmshorn. Diese lange gemeinsame Geschichte wurde von den Nationalsozialisten in nicht einmal zehn Jahren zerstört.“ Harald Kirschninck rekonstruiert den Verlauf der Pogromnacht anhand des Berichtes des Hauptbelastungszeugen P. im späteren Synagogenbrandprozeß vom 6. Juli 1948 und er nennt die Namen der Angeklagten, zitiert nach dem Bericht des Hamburger Echo vom 8. Juli 1948: „Angeklagt waren fünf Personen, die sämtlich schon vor 1933 der NSDAP beigetreten waren: Gastwirt Andresen, Kraftfahrzeugmeister Hans Kühl, der frühere Kriminalsekretär Heinrich Kobarg, Bankangestellter Friedrich Abel, sämtlich aus Elmshorn, und der frühere SA-Obersturmführer Wilhelm Meyer aus Pinneberg. Die Nazis wurden auf Antrag des Staatsanwalts freigesprochen, da dieser die Belastungsaussagen eines Zeugen, der die Brandstiftung aus nächster Nähe erlebt hatte, nicht für ausreichend hielt“.

Beiträge zur Elmshorner Geschichte Band 9

Antisemitismus – ein genuines Problem aus der Mitte der Gesellschaft

Dr. Jürgen Brüggemann von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) sprach in seinem Beitrag die Trauer, Erinnerung und Mahnung aus: „Im Nahen Osten tobt die Gewalt zwischen Israelis und Palästinenser*innen weiter. Es sind abertausende Tote und Schwerverletzte in der kurzen Zeit seit dem 7. Oktober zu beklagen. Der Tag, an dem von der Hamas in Israel so viele Jüdinnen und Juden verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden .

Seither zeigt der Antisemitismus vielerorts so offen sein Gesicht wie seit langem nicht mehr. Stolpersteine werden geschändet, antisemitische Parolen tönen auf Demos, nicht nur aus dem Mund von Hamas-Anhängern und Häuser mit jüdischen Bewohnern werden mit Davidsternen beschmiert. Die antisemitische Hetze auf Social-Media-Kanälen explodiert, selbst in TV-Talkshows werden altbekannte Stereotype über jüdische Menschen kolportiert und fast folgerichtig kam es zu Angriffen auf Synagogen sowie auf ein jüdisches Krankenhaus. 2023 wurden schon vor dem 7. Oktober in Deutschland 1.365 antisemitisch motivierte Straftaten registriert. Seither steigt die Anzahl derartiger Straftaten weiter dramatisch an.

Dieser Antisemitismus ist nicht rechts oder links, er ist nicht muslimisch, er wurde nicht importiert und er kann nicht abgeschoben werden. Er ist ein genuines Problem.“

Er erinnerte an den Tagebucheintrag von Betty Scholem:  „Aber der Antisemitismus hat das Volk so durchsetzt und verseucht, dass man allenthalben auf die Juden schimpfen hört, ganzöffentlich, in so ungenierter Weise wie nie bisher.“ Ihr aktuell anmutender Tagebucheintrag stammte aus dem Jahr 1923. Nur wenige Tage nach ihrer Notiz, am 5. und 6. November 1923, fand im Berliner Scheunenviertel das größte antisemitische Pogrom der Weimarer Republik statt. Jürgen Brüggemann erinnerte auch an die oft verharmlosend als „Hitlerputsch“ bezeichnete Aktion von völkischen Nationalisten, Militaristen und Monarchisten. Diese bewaffnete Aktion gegen die demokratische Verfassung der Republik wollte in einer  „Notverfassung“ neben der Auflösung der parlamentarischen Körperschaften im Land wie im Reich, ein Streikverbot und die Entlassung jüdischer Beamter durchsetzen. Teile des Putschplans waren auch die Erlaubnis zur Einziehung jüdischen Vermögens und die Ausweisung sicherheitsgefährlicher Personen. „Unnütze“ Esser sollten in Sammellager gebracht und zur Zwangsarbeit verpflichtet werden. „So unterschiedlich die beteiligten Strömungen an dieser Putschaktion auch waren, das alle einigende Band war der Antisemitismus.“

Daher stießen dann die im Jahr 1933 einsetzenden Schritte zur Eskalation der Verfolgung, zahlreiche antijüdische Gewalttaten, Enteignungen sowie massive juristische Diskriminierungen, auf eine schon lang anschwellende Gewöhnung:  „Die Mittäter waren vorbereitet, die Mitläufer darauf eingestellt und die Wegseher taten das, was sie schon immer taten. Der ohnehin uneinige und schon geschwächte Widerstand wurde verfolgt, eingesperrt, ermordet.“

Ungehindert konnte die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bis zur planmäßigen und industriell organisierten Vernichtung seinen Weg nehmen.

Es folgte die den Eroberungs- und Vernichtungskrieg begleitende systematische Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung mit über 6 Million Toten.

„Auch schon vorher und nachher gab und gibt es Völkermord. Aber der Genozid an der jüdischen Bevölkerung ist historisch einmalig. Niemand sollte diese Einmaligkeit der Shoah durch unzulässige Vergleiche relativieren.“, so Jürgen Brüggemann.

Am Vorabend der Reichspogromnacht hatte die jüdische Gemeinde Elmshorns 60 Mitglieder. Nach der Befreiung vom Faschismus waren sie alle vertrieben, geflohen oder ermordet. Es gab keine jüdische Gemeinde mehr. Der vollständige Beitrag kann hier eingesehen werden.

 

Grußworte zum 20. Jahrestag der jüdischen Gemeinde

Jürgen Brüggemann und Andreas Hahn richteten auch Grußworte an die jüdische Gemeinde:

„Gestern konnte die heutige jüdische Gemeinde Elmshorns den 20. Jahrestag ihrer Wiedergründung begehen. Dazu unseren herzlichen Glückwunsch. Die Gemeinde ist ein bereichernder unverzichtbarer Teil der Zivilgesellschaft unserer Stadt. Gegen das Vergessen zu wirken ist unser gemeinsamer Auftrag.

Lassen Sie uns gemeinsam gegen alle Formen des Antisemitismus, des Rassismus und der Ausgrenzung antreten! Nie wieder!“

 

Kranziederlegung, Zitate der Stelen sowie Gesang und Gebet auf Jiddish

Im kulturellen Rahmen legten Oberbürgermeister Volker Hatje und Bürgervorsteher Andreas Hahn für die Stadt, sowie Wittigo Stubbe und Dr. Jürgen Brüggemann für die VVN/BdA Kränze am Gedenkstein nieder.

 

Frank Ramson rezitierte die Texte der Stelen auf dem Gedenkplatz der Synagoge:

 

An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt –

Ich bin in Sehnsucht eingehüllt

Wir waren. Wir sind.

Wer hat mir den Regebogen aus dem Blick gerissen

Ich kann mit meinem Menschenbruder sprechen.

Aus dem Geheimnis kommen wir, in das Geheimnis gehen wir, Geheimnis bleiben wir uns selbst.

Bald hüllt Vergessenheit mich ein wie Schnee

 

Eingerahmt  wurde die Veranstaltung von dem  „El Male Rach­a­mim“, und dem „Kaddisch“ ge­sun­gen und vorgetragen von Kantor Walter Joshua Pannbacker aus Kiel.

l malej Rachamim, schochen baMromim,
hamze Menuchah nechonah,
tachat Knafej haSch’chinah,
beMaalot Keduschim weTehorim keSohar haRakia mas’hirim
et khal haNeschamot schel sheshet Millionej haYehudim,
Hal’lej haShoah beEuropa,
sche-nehergu, sche-nisch’chetu,
sche-nis’refu, wesche-nis’pu al Kidusch haSCHEM,
b’Jadej haMeraz’chim haGermanim
weOs’rejhem miSch’ar haAmim.

Baawur sche-khal haKahal mit’palel leIluj Nischmotehem,
lachen Baal haRachamim jastiram
beSeter Knafaw leOlamim
wejizror biZror haChajim et Nischmotejhem.

Adonaj hu Nachlatam, beGan-Eden tehe Menuchatam,
wejanuchu beSchalom alMischkewotejhem.
Wejaamidu leGoralam leKejz haJamim.
Wenomar: Amejn.

G’tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend,
es sollen finden die verdiente Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart,
in den Höhen der Gerechten und Heiligen,
strahlend wie der Glanz des Himmels,
all die Seelen der Sechs-Millionen Juden,
Opfer der Shoah in Europa,
ermordet, geschlachtet,
verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens;
durch die Hände der deutschen Mörder
und ihrer Helfer aus den weiteren Völkern.

Sieh die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen,
so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens,
im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit
und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.

G’tt sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte,
und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden.
Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung
am Ende der Tage.

Jitgadal w’jitkadaš, Sch’meh rabah,
b’Alma di hu Atid l’it’chadata.
Erhoben und geheiligt, sein großer Name,
in der Welt die er erneuern wird.
Uleachaja Metaja, uleasaka jatehon leChajej Alma,
Er belebt die Toten,
und führt sie empor zu ewigem Leben,
ulemiwnej Karta di-Jeruschelejm
Er erbaut die Stadt Jiruschalajim
uleschachelala Hejcheleh beGawah,
und errichtet seinen Tempel auf ihren Höhen,
ulemäeakar Palchana nucheratah min-Areaa,
Er tilgt die Götzendienerei von der Erde
welaatawa Palchana di-Schmaja leAtra,
und bringt den Dienst des Himmels
wieder an seine Stelle,

wejamlich Kudescha berich hu beMalchuteh Wikareh
und regieren wird der Heilige, gelobt sei er,
in seinem Reiche und in seiner Herrlichkeit,

beChajejchon  uweJomejchon
in eurem Leben und in euren Tagen
ubeChajej dechal-Bejt Jiserael
und im Leben des ganzen Hauses Israel
baAgala uwiSeman kariw,
schnell und in naher Zeit,
weimeru  Amejn!
Und sprechet:
Amejn!

Gedenken am 85. Jahrestag der Zerstörung der Synagoge und Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Elmshorn

 

 

Weitere Informationen über die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Elmshorn unter:

https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/559-elmshorn-schleswig-holstein

 

https://www.alemannia-judaica.de/elmshorn_synagoge.htm

 

Text und Bilder: Rudi Arendt