Misshandlung des Sozialdemokraten Alfred Stamer

12. August 1933
Ulzburger Straße 557, Friedrichsgabe / Norderstedt

In der Ulzburger Straße Nr. 557 lebte der Maurer Ernst Wittorf,[1] der eine Familie aufgenommen hatte, die zuvor aus der ostpreußischen Stadt Pillau vertrieben wurde. Es handelte sich hierbei um die Familie von Alfred Stamer.

Alfred Stamer wurde 1887 in Hamburg als Sohn eines Arbeiters geboren. Nach dem Besuch der Volksschule war er als Fabrik-, Erd- und Bauarbeiter tätig[2] und schloss sich 1906, mit 18 Jahren, der SPD an.[3] 1911 zog er aus Hamburg fort[4] und wurde in Berlin Angestellter bei dem gewerkschaftlichen Gemeindearbeiterverband. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg, den er verwundet überstand, übernahm er bis 1922 die Leitung des Gemeindearbeiterverbandes für Ostpreußen mit Sitz in Königsberg. Anschließend wurde er der ostpreußische Leiter des sozialdemokratisch geprägten Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und hiernach wiederum ab Oktober 1922 bis 1933 hauptamtlicher Bürgermeisteramt der Seestadt Pillau in Ostpreußen. In den Jahren von 1921 bis 1924 übernahm er zudem ein Mandat im Preußischen Landtag.[5]

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde gegen ihn der damals gegenüber politischen Gegnern in öffentlichen Funktionen übliche Vorwurf geäußert, Gelder unterschlagen zu haben. Sein Mobiliar und seine Ersparnisse wurden daraufhin beschlagnahmt. Er wurde kurzfristig vom 6. auf den 7. Februar 1933 und dann noch einmal vom 18. bis zum 20. April 1933 inhaftiert. Aus der zweiten Verhaftung heraus brachte man ihn in nächtlicher Stunde direkt aus dem Polizeigefängnis zum Bahnhof, wo er die Aufforderung erhielt, Pillau zu verlassen und seinen Wohnsitz zu verlegen.[6] Über eine Zwischenstation in Berlin kam er schließlich in seine alte Heimatstadt Hamburg an und fand für seine Frau, seinen Sohn und sich Ende April 1933 in Friedrichsgabe eine Unterkunft.[7] Da Stamer kein Einkommen mehr erhielt und er auch nicht Pansionsansprüche geltend machen konnte, war er in Friedrichsgabe auf Fürsorgeunterstützung angewiesen und hatte als Unterstützungsempfänger in der Gemeinde Erdarbeiten auszuüben. Anscheinend gelang es Alfred Stamer, seinen politischen Werdegang in der Landgemeinde zunächst geheim zu halten, denn erst am 12. August 1933 wurde der NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Lührs auf Stamer aufmerksam.

Es ist anhand der Quellen nicht genau ersichtlich, wie Lührs von seinem sozialdemokratischen Kontrahenten erfahren hatte, jedenfalls nutzte der NSDAP-Ortsgruppenleiter die am 12. August großangesetzte Durchsuchungsaktion bei politischen Gegnern, um auch Alfred Stamer in der Ulzburger Straße einen „Besuch“ abzustatten.[8] Am späten Abend traf der Ortsgruppenleiter zusammen mit zehn bis zwölf SA-Männern[9] mit einem LKW vor dem Haus ein. Lührs begrüßte Alfred Stamer, der sich bereits im Nachtgewand befand, mit den Worten: „Also Sie sind der berühmte Bürgermeister von Pillau.“ Anschließend packte er Stamer an der Brust und riss ihn herum, woraufhin mehrere SA-Männer dem Gestürtzten mit ihren Stiefeln Fußtritte in die Kniekehlen, ins Gesäss und in den Rücken versetzten. Nach der Prügeorgie zerrten sie den lediglich mit Hemd, Hose und Filzpantoffeln bekleideten Alfred Stamer auf den LKW und fuhren mit ihm in die Gastwirtschaft „Zum Heidberg“, wo die Misshandlungen fortgesetzt wurden (siehe Spur: Die Durchsuchungsaktionen am 12. August 1933). Noch in der Gastwirtschaft wurde Stamer von den anwesenden Gendarmen verhaftet und in das Polizeigefängnis nach Garstedt gebracht, von wo aus er am 14. August 1933 in das Konzentrationslager Kuhlen überführt wurde.[10] Einen Tag vorher fand noch eine Durchsuchung seiner Wohnung statt, die zur Beschlagnahme von Büchern, vieler Briefe und seiner persönlichen Unterlagen führte, die teilweise öffentlich verbrannt, teilweise beim Amtsvorsteher der Ortspolizeibehörde Quickborn aufbewahrt wurden.[11]

Das KZ Kuhlen bei Rickling (Kreis Segeberg) entstand am 18. Juli 1933 und befand sich auf dem Gut Kuhlen der Inneren Mission.[12] Über die Einrichtung des KZ Kuhlen unterrichtete der Landrat des Kreises Segeberg seinen Kollegen in Pinneberg, der die Information an die ihm unterstehenden Ortspolizeibehörden weitergab. Am 5. August 1933 erhielt somit auch der für Friedrichsgabe, Hasloh und Quickborn zuständige Amtsvorsteher Willhelm Kolz eine Abschrift des Schreibens, in dem der Segeberger Landrat mitteilte: „Im Kreis Segeberg habe ich in Rickling (Kuhlen) ein Konzentrationslager für solche Personen, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit in ihrer persönlichen Freiheit – Schutzhäftlinge – beschränkt werden, eingerichtet. Das Lager umfaßt 62 Plätze... Die Kosten für den Aufenthalt betragen 1,50 RM … Die Schutzhäftlinge aus dem Kreis Segeberg werden sämtlich dort untergebracht. Ich bitte auch die Häftlinge aus dem dortigen Kreise nach vorausgegangenem Anruf bei dem Kommando des Lagers nach Möglichkeit dorthin zu überweisen.[13] Das Konzentrationslager bestand aus einer Baracke, die mit Maschendraht umzäumt war. Die Häftlinge wurden von bewaffneten SA- und SS-Mitgliedern bewacht und mussten im Moor Wassergräben ausheben.[14] In der Zeit bis zur Auflösung dieses Konzentrationslagers am 27. Oktober 1933 waren in Kuhlen mindestens 191 Menschen, davon 44 aus dem Kreis Pinneberg, inhaftiert.[15]

Im Zuge der Einstellung des KZ-Betriebes wurde Alfred Stamer am 26. Oktober 1933, nach 2 1/2 Monaten Haft, aus Kuhlen entlassen.[16] Hiernach zog er nach Hamburg und arbeitete zunächst 1936/37 als Erdarbeiter auf dem Öjendorfer Friedhof, wo er auf Veranlassunug der Nationalsozialisten entlassen wurde. Anschließend war er bei einer Hamburger Firma als Holzarbeiter tätig und arbeitet sich hier zum Lagermeister hoch. Zwei weitere Male wurde Alfred Stamer noch kurzfristig von der Gestapo verhaftet, verhört und seine Wohnung durchsucht. Nach der Kapitulation engagierte er sich im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg wieder aktiv in der SPD und war ab August 1946 als Ortsdienststellenleiter der Hamburger Stadtverwaltung tätig.[17] Alfred Stamer starb am 23. April 1966 mit 78 Jahren in Reinbek bei Hamburg.[18]

Veröffentlicht von Jörg Penning am

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